Geschichte der Ukraine

Zusammenfassung

Geschichte der Ukraine kurz gefasst

Die heutige Ukraine ist eine Staatsbürgernation. Über die Jahrhunderte hinweg haben das Territorium und seine Bevölkerung eine wechselvolle Geschichte zwischen „goldenen Zeitaltern“ und dunkelsten Stunden erlebt.

„Ukra?na“ bedeutet ursprünglich „Grenzland“. Die historische Lage des Landes an der Grenze zur Steppe und der Küste des Schwarzen Meers im Süden, zu den Karpaten im Westen, den Sumpfgebieten im Nordwesten (an der Grenze zum heutigen Belarus), zu Polen im Westen und Russland im Osten bestimmte dabei seit jeher Geschichte und Bedeutung der heutigen Nation.

Als erstes „goldenes Zeitalter“ in der Geschichte der Ukraine gilt das Reich der Kiewer Rus, das zwischen dem 9. und der Mitte des 13. Jahrhunderts bestand. Sie umfasste neben Ostslawen auch finno-ugrische, baltische und griechische Bewohner. Nach zahlreichen Machtkämpfen um die Nachfolge des Kiewer Großfürsten zerfiel das Reich bald in seine einzelnen Fürstentümer, ehe der Einfall der Mongolen in der Mitte des 13. Jahrhunderts das Ende der Kiewer Rus bedeutete.

Im Lauf des 14. Jahrhunderts fielen die nordöstlichen und zentralukrainischen Gebiete unter die Herrschaft des Großfürstentums Litauen, der südwestliche Teil unter die Herrschaft Polens. Nach der Gründung des Staates Polen-Litauen im Jahr 1569 wurde auch das bisher litauische Territorium unter polnische Verwaltung gestellt. Das Gebiet um die Krim hingegen blieb unter mongolischer Herrschaft und wurde zum eigenständigen Krim-Khanat. Vor allem auf polnisch regiertem Gebiet stießen bald neue Bevölkerungsgruppen hinzu – Juden, Armenier und Deutsche –, die die Entwicklungen des Gebiets maßgeblich mitprägten. Neben einigen wenigen städtischen Zentren, in denen vor allem der Handel florierte, war die Mehrheit der Bevölkerung weiterhin bäuerlich geprägt.

Als zweites „goldenes Zeitalter“ gilt in der ukrainischen Geschichtsschreibung das 16. Jahrhundert mit der Herrschaft der Kosaken – Verbünde von entlaufenen leibeigenen Bauern und Abenteurern –, die sich in „Hetamanaten“ organisierten. Vor allem der Hetman Bohdan Chmelnyzkyj gilt vielen heute noch als Held, der mit seinem Aufstand gegen die polnische Herrschaft als einer der Begründer der Nationalbewegung angesehen wird. In diese Zeit fiel allerdings auch die erste Massenverfolgung von Juden, die als wirtschaftliche Repräsentanten Polens galten.

Das 18. und 19. Jahrhundert standen im Zeichen russischer Vorherrschaft. Diese ging unter anderem mit einer zunehmenden Russifizierung der östlichen Gebiete und einer Vertreibung der Tartaren auf der Krim einher. Die westlichen Gebiete fielen zunächst unter habsburgische Herrschaft. Vor allem dort entstand eine Nationalbewegung, die immer selbstbewusster eine eigene Kultur herausbildete und sich für feste Grenzen einer „Ukraine“ einsetzte.

Das dritte „goldene Zeitalter“ währte nur kurz: Mit dem Zentralrat in Kiew besaß die „Ukrainische Volksrepublik“ zwischen 1917 und 1920 ihr erstes eigenständiges Parlament. Während 1918 im westlichen Teil noch Wahlen zu einer Verfassunggebenden Versammlung stattfinden sollten, war der Osten des Landes bereits von den Bolschewiki besetzt, die im benachbarten Russland den Zaren vom Thron gestürzt hatten. Nachdem sie beinahe das vollständige Gebiet der Ukraine erobert hatten, proklamierten sie mit der Ausrufung der Sowjetunion 1922 auch die „Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik“. Unter der Sowjetherrschaft folgte eine kurze Hochphase der Ukrainisierung, bevor Josef Stalin Ende der 1920er Jahre und Anfang der 1930er Jahre die noch junge ukrainische Elite fast vollständig ermorden ließ. Hinzu kamen die Kollektivierung der Landwirtschaft und die Stigmatisierung der Bauern. Einer großen Hungernot in den Jahren 1931 und 1932 folgte die Massenvernichtung der Ukrainer durch die Bolschewiki. Diese Zeit ging später als „Holodomor“ („Tötung durch Hunger“) in die Geschichte ein.

Im Zweiten Weltkrieg geriet die Ukraine zwischen die Fronten des Nationalsozialismus auf der einen und des Stalinismus auf der anderen Seite. Wurden die Nationalsozialisten zunächst von einigen Ukrainern als Befreier vom „roten Terror“ gefeiert, musste die Bevölkerung bald feststellen, dass auch sie nichts als Vernichtung und Massenmord über das Land brachten. Nach dem Krieg versuchte die Sowjetführung die Gebietsabtretungen, die die Ukraine in den Friedensverträgen von Brest-Litowsk 1918 und Riga 1921 hinnehmen musste, rückgängig zu machen. Die wiedereingesetzte „Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik“ erlangte damit Gebiete Polens, Rumäniens und der Tschechoslowakei zurück. Zu dieser Zeit war die Ukraine fast vollständig zerstört; die Bevölkerung litt unter bitterer Armut.

Nach Stalins Tod 1953 endeten Terror und die Verfolgung. Mit dem neuen sowjetischen Parteichef Nikita Chruschtschow setzt wieder eine Phase der „Ukrainisierung“ ein. Es folgten erneute „Säuberungen“ in den 1970er Jahren, bevor Michail Gorbatschows „Perestroika“ und „Glasnost“ Ende der 1980er Jahre auch auf die Ukraine zu wirken begannen. Nach dem gescheiterten Augustputsch in Moskau im Jahr 1991, in dessen Rahmen reaktionäre Kräfte vergeblich versucht hatten, Gorbatschow als Präsidenten der Sowjetunion abzusetzen, erklärte die Ukraine mit weiteren Sowjetrepubliken ihre Unabhängigkeit.

Seit dieser Zeit befindet sich das Land auf der Suche nach einer Rolle in der internationalen Politik in einem Zwiespalt zwischen Neutralität, (westlicher) Identitätsbildung und pragmatischen Beziehungen zu Russland. Die 1990er Jahre waren geprägt von nur äußerst zögerlich vorgetragenen Reformversuchen auf der einen und einer grassierenden Korruption, der Entstehung einer Oligarchen-Schicht und Massenarmut der Bevölkerung auf der anderen Seite.

Nach manipulierten Präsidentschaftswahlen 2004, aus denen der eher prorussisch orientierte Wiktor Janukowytsch als Sieger hervorgegangen war, versammelten sich zwischen 500.000 und einer Million Menschen – vorwiegend aus der akademischen, westlich und städtisch geprägten Schicht – auf dem Majdan-Platz in Kiew. Im Zuge dieser Proteste, die als „Orangene Revolution“ bezeichnet wurden, wurde Janukowytsch als Präsident abgesetzt. Aus den Neuwahlen im Dezember ging der nach Westen orientierte Wiktor Juschtschenko als Sieger hervor.

Bis 2010 konnten die Akteure der Revolution kaum Reformen auf den Weg bringen. Die wirtschaftliche und soziale Lage war sehr unterschiedlich. In der Bevölkerung hatte vor allem Wiktor Juschtschenko sein Ansehen verspielt, sodass Wiktor Janukowytsch bei den nächsten Wahlen als Sieger hervorging.

Unter seiner Präsidentschaft kam es zur Einschränkung der Pressefreiheit, der Rücknahme zahlreicher Reformen und der Verfolgung politischer Gegner. Außenpolitisch verfolgte Janukowytsch eine Annäherung an den Westen durch ein Assoziierungsabkommen mit der EU bei gleichzeitigen Verhandlungen über den Beitritt zur russischen Zollunion. Nachdem die Verhandlungen mit der EU im November 2013 auf massiven Druck aus Russland hin überraschend gescheitert waren, kam es in den Folgemonaten vor allem in den westlichen Landesteilen zu Massenprotesten, in deren Rahmen erstmals eine breite Zivilgesellschaft für die Absetzung des Präsidenten auf die Straßen ging. Die Bewegung wurde nach ihrem Hauptschauplatz, dem Majdan in Kiew, als Euromajdan bezeichnet.

Nachdem sich auch Armee, Geheimdienst und Polizei auf die Seite der Demonstranten geschlagen hatten, kam es im Februar 2014 zur Absetzung Janukowytschs durch das Parlament. Die Neuwahlen im Mai konnte schließlich der nach Westen orientierte Oligarch Petro Poroschenko für sich entscheiden.

Teils aus Angst vor Protesten im eigenen Land, teils als Reaktion auf die weitere Annäherung der Ukraine an den Westen versuchte Russlands Präsident Wladimir Putin, die Ukraine zu destabilisieren. Im Februar/März 2014 folgte die Annexion der Krim, im April besetzten prorussische Separatisten Regierungsgebäude im Donbass und riefen die „Souveränen Volksrepubliken“ Luhansk und Donezk aus.

Die beiden Abkommen von Minsk 2015 brachten nur eine brüchige Waffenruhe mit sich, bevor sich die kriegerischen Auseinandersetzungen um den Osten der Ukraine fortsetzten und im Februar 2022 mit dem russischen Einmarsch in die Ukraine ihren Höhepunkt erfuhren.

Wie ist die aktuelle Lage im Ukraine-Krieg? Wie ist der Ukraine-Konflikt seit 2013/14 verlaufen? Wie haben sich die russisch-ukrainischen Beziehungen historisch entwickelt?

Russland-Ukraine-Konflikt

„Wir haben jetzt einen Krieg in Europa in einer Größenordnung, wie wir ihn nur aus der Geschichte kennen”, so NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Wie konnte es dazu kommen? Mit welchen Folgen ist zu rechnen?

Krieg in Europa

Das ukrainische Territorium in Mittelalter und Neuzeit

Die Anfänge der Kiewer Rus reichen bis in die zweite Hälfte des 9. Jahrhunderts zurück. Auf dem Gebiet zwischen Ostseeraum, Schwarzem Meer und dem Bosporus bildete sich zu dieser Zeit ein Großreich heraus, das seit 862 von den Rjurikiden, einer Fürstendynastie aus dem Stamm der Rus, beherrscht wurde.

Das Reich umfasste bald die gesamten ostslawischen Gebiete und vereinte zahlreiche Ethnien: neben Ostslawen lebten etwa auch baltische, finno-ugrische und turksprachige Stämme innerhalb des Territoriums der Kiewer Rus. Durch den Handel mit dem Byzantinischen Reich und mit der Annahme des Christentums 988 durch die Rjurikiden erlebte das Reich eine wirtschaftliche und kulturelle Blütezeit.

Zunehmende Fehden unter den Herrschern der Teilfürstentümer um die Nachfolge als Großfürsten von Kiew und ständige Einfälle von Reiter- und Steppenvölkern in die südlichen und südöstlichen Landesteile führten im Laufe des 11. und 12. Jahrhunderts zum Zerfall der Kiewer Rus als Großreich. Gleichzeitig erlangten die einzelnen Teilfürstentümer eine größere Selbständigkeit. Die mongolische Invasion der Rus ab 1237 und die Besetzung Kiews im Jahr 1240 führten schließlich zum Ende der Kiewer Rus und zum Beginn der mongolischen Herrschaft – auch auf weiten Gebieten der heutigen Ukraine.

Im Lauf des 14. Jahrhunderts fielen die nordöstlichen und zentralukrainischen Gebiete unter die Herrschaft des Großfürstentums Litauen, der südwestliche Teil unter die Herrschaft Polens. Nach der Gründung des Staates Polen-Litauen im Jahr 1569 wurde auch das bisher litauische Territorium unter polnische Verwaltung gestellt. Das Gebiet um die Krim hingegen blieb unter mongolischer Herrschaft und wurde zur Mitte des 15. Jahrhunderts zu einem eigenständigen Khanat, in dem vorwiegend die sogenannten Krimtartaren lebten.

Während des 16. Jahrhunderts schlossen sich vor allem entlaufene leibeigene Bauern und Abenteurer zu Kosaken-Heeren zusammen und gründeten unter anderem am Dnjeper größere Gemeinschaften. Nach dem Volksaufstand von 1648 und der Befreiung von der polnischen Herrschaft bildeten sie zunächst einen unabhängigen Herrschaftsverband, gerieten jedoch bald wieder in neue Abhängigkeiten ihrer Nachbarn Polen und Russland – etwa durch den Treueeid von Perejaslaw 1654, den das Kosakenheer auf den russischen Zaren ablegte, um Unterstützung im Kampf gegen Polen zu erhalten. In der Folge zerfiel das Gebiet der heutigen Ukraine bald mehrheitlich in einen kleineren polnischen und einen großen russischen Teil. Unter der Herrschaft Katharinas der Großen (1762–1796) wurden in den südlichen und östlichen Gebieten der heutigen Ukraine zunehmend auch deutsche Auswanderer und Russen angesiedelt.

Im Verlauf der Teilung Polen-Litauens (1772, 1793, 1795) wurde auch das nördliche und westliche Territorium der Ukraine zwischen Russland und Österreich aufgeteilt. Während die ukrainische Sprache und Kultur im Zarenreich mehr und mehr einer massiven Russifizierung ausgesetzt war, konnte sie sich unter habsburgischer Herrschaft freier entfalten. Vor allem von dort gingen im 19. Jahrhundert starke Impulse zur Herausbildung einer eigenen Nation aus.

„Ukraine“, „Rus“ und „Dreieiniges Russland“

„Ukraine“ bedeutet „Grenzland“. Bezeichnete der Begriff zunächst nur die Lage des Territoriums an der Grenze zur Steppe, entwickelte er sich seit dem 16. Jahrhundert zu einer eigenständigen Bezeichnung für das Territorium. Gleichzeitig schwelten Streitigkeiten über den Begriff der „Rus“. Sowohl Ukrainer als auch Russen beanspruchten die „Kiewer Rus“ als Wiege ihres Staates. Während die Ukraine vor allem territoriale Argumente geltend machte und sich als Ursprung Russlands verstand, berief sich die russische Seite vor allem darauf, dass auch die russischen Zaren bis zum Ende des 16. Jahrhunderts den direkten Nachfahren der Kiewer Rjurikiden entstammten. Gleichzeitig hatte sich – zunächst vor allem auf ukrainischer Seite – die Idee einer „Dreieinigkeit“ des russischen Volkes aus Russen, Belarussen und Ukrainern herausgebildet, also die Vorstellung, dass dieses „altrussische“ Volk den Kern des multiethnischen Kaiserreichs bildete. Anhänger der „ukrainischen Idee“ hingegen betonten verstärkt die kulturelle und ethnische Unabhängigkeit von Russland.

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Zwischen Erstem Weltkrieg und Gründung der Sowjetunion

Während des Ersten Weltkriegs geriet die Ukraine wortwörtlich zwischen die Fronten: Das Deutsche Kaiserreich unterstütze anfänglich die Unabhängigkeitsbemühungen, die vor allem vom westlichen Teil des Landes ausgingen, um das russische Zarenreich geografisch wie auch „moralisch“ zu schwächen – eine Politik, die auch aufgrund der Entwicklungen in Russland im Frühjahr 1917 allerdings nie zur Umsetzung kam.

Als die Februarrevolution 1917 den russischen Zaren vom Thron vertrieb, erlebten die Separationsbestrebungen der Ukraine neuen Aufwind: Am 17. März kamen Vertreter aus verschiedenen Gesellschaftsbereichen in Kiew in der Zentralna Rada, dem neu eingerichteten Versammlungsrat der Ukraine, zusammen und bildeten eine provisorische Regierung, die fortan eigenständig arbeiten sollte. Hauptanliegen der Rada bestanden etwa in der Festlegung einer ukrainischen Staatsgrenze und schließlich in der Schaffung einer unabhängigen Republik. Solche Bestrebungen führten allerdings vermehrt zu Konflikten mit der russischen provisorischen Regierung unter Alexander Kerenski.

 

Die politische und territoriale Gemengelage änderte sich ab Herbst 1917 erneut: Unmittelbar nach der Oktoberrevolution der Bolschewiki in Russland rief der ukrainische Zentralrat am 20. November die Ukrainische Volksrepublik aus und erklärte sich zum unabhängigen Staat. Bereits im Dezember allerdings organisierten die Bolschewiki Aufstände auf ukrainischem Gebiet. Eine Loslösung der Ukraine vom russischen Imperium galt es ihrer Ansicht nach zu vermeiden, da sie dadurch eine Destabilisierung der revolutionären Entwicklungen befürchteten. Ende Dezember drangen die Bolschewiki bis nach Charkiw vor und proklamierten sogleich die „Ukrainische Volksrepublik der Sowjets“.

Während noch im Januar 1918 im nicht besetzten, westlichen Teil der Ukraine Wahlen zu einer verfassunggebenden Versammlung ausgerufen wurden, eroberten die Bolschewiki bald darauf auch Kiew. Unter anderem in der Hoffnung, die Mittelmächte würden die Ukraine gegen die drohende Sowjetherrschaft unterstützen, unterzeichnete die ukrainische Delegation in Brest-Litowsk den sogenannten „Brotfrieden“. Am 3. März eroberten deutsche und österreichische Truppen sodann auch Kiew zurück und setzten die Zentralna Rada wieder ein. Ihre Befugnisse behielt sie indes nur für kurze Zeit: Nachdem die ukrainische Regierung weder fähig noch willens war, die im "Brotfrieden" vereinbarten Lieferungen an Getreide in vollem Umfang bereitzustellen, wurde der Zentralrat bereits wenige Wochen später mit Unterstützung deutscher Militärs gestürzt und durch ein autoritäres Regime unter der Führung von Pawlo Skoropadsyj ersetzt. Auch dieser sogenannte Ukrainische Staat fand seinerseits bereits im Dezember nach schweren Auseinandersetzungen wieder sein Ende.

Während Gebiete und Verwaltungen im westlichen Teil des Landes (vor allem im Zuge des polnisch-russischen Kriegs) weitere Male wechselten, brachten die Bolschewiki die östliche Ukraine einschließlich Kiews bis zum Februar 1919 wieder unter ihre Kontrolle. Nach neun Machtwechseln, die die Stadt innerhalb von zwei Jahren erlebt hatte, dauerte es noch bis Anfang 1921, bis die Bolschewiki die Zentral- und Ostukraine vollständig beherrschten und mit der Ausrufung der Sowjetunion 1922 auch die „Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik“ proklamierten. Der südwestliche Teil, die Karpaten-Ukraine, hingegen fiel nach dem Ende des polnisch-russischen Kriegs im März 1921 der Tschechoslowakei, Galizien und West-Wolhynien im nordwestlichen Teil Polen zu.

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Zwischenkriegszeit: Ukrainisierung und „Holodomor“

Kurze Phase der Ukrainisierung

Nach ihrer Machtergreifung verfolgten die Bolschewiki in den Sowjetstaaten zu Beginn der 1920er Jahre eine Politik der Nationalisierung. Der Sozialismus sollte zunächst in nationalen Formen verwirklicht werden – als Durchgangsstadium zu einer klassenlosen Gesellschaft. Durch die sogenannte Korenisazija, die „Einwurzelung“, wie die Bolschewiki ihre Politik nannten, sollten nationale Minderheiten in den Sowjetstaaten gefördert und schließlich in die Kader der KPdSU eingebunden werden. Auch die jeweiligen Nationalsprachen und eine damit einhergehende frühe Alphabetisierung der Bevölkerung erhielten infolgedessen große Bedeutung. Vor allem in den multiethnisch geprägten Unionsrepubliken musste eine einheitliche Nationalkultur und Nationalgeschichte aber oftmals erst nachträglich konstruiert werden.

Auch in der Ukraine führte die Politik der Bolschewiki zu einem kurzen Aufschwung der eigenen Sprache, die nun als offizielle Schul- und Amtssprache anerkannt wurde. Viele Bewohner vor allem in den nichtstädtischen Gebieten verstanden sich allerdings weiterhin nicht primär als „Ukrainer“, sondern sahen sich schlicht als „Hiesige“ des jeweiligen Territoriums, in erster Linie ihrer eigenen Ethnie zugehörig.

„Säuberungen“ und „Holodomor“

Die Förderung nationaler Minderheiten fand bereits Anfang der 1930er Jahre ein jähes Ende. Die forcierte Industrialisierung und die damit einhergehende rücksichtslose Umsetzung der Fünfjahrespläne führte zur gewaltsamen Zwangskollektivierung aller wirtschaftlichen Bereiche. In der Ukraine, die aufgrund ihrer fruchtbaren Schwarzerde als „Kornkammer“ des Zarenreichs und der Sowjetunion galt – nach einer populären Deutung ist das Gelb der Flagge Ausdruck dieses an Getreide reichen Gebiets, während das Blau den Himmel symbolisiert –, waren vor allem die Bauern und landwirtschaftlichen Betriebe von den radikalen Maßnahmen betroffen. Gleichzeitig war hier auch der Widerstand gegen die Politik der Bolschewiki am größten.

Den Machthabern, die jede Abweichung vom Plansoll als Verrat am kommunistischen Projekt betrachteten, waren nun, nur wenige Jahre nach ihrer Nationalisierungspolitik, vor allem die nationalen Minderheiten ein Dorn im Auge. Viele Angehörige der neuen ukrainischen Eliten wurden durch russische Kader ersetzt und fielen in den 1930er Jahren den stalinistischen „Säuberungen“ zum Opfer.

Hinzu kamen Missernten in den Jahren 1931 und 1932, die am Beginn des Massenmords an der ukrainischen Bevölkerung standen. Trotz der ohnehin prekären Lage – vor allem die Landbevölkerung litt zunächst besonders hart am Ernteausfall –, erhöhte die Sowjetführung das Abgabensoll für Getreide um fast 50 Prozent. Die Bauern, die diese Forderungen weder erfüllen konnten noch wollten, wurden als „Kulaken“ zum Hauptfeind der Kommunisten. Um mehr Getreide für den internationalen Devisenhandel zu beschaffen, plünderten Stalins Genossen ganze Dörfer und Landstriche, sodass der eigenen Bevölkerung selbst oft nichts mehr zu essen übrigblieb. Selbst Fälle von Kannibalismus sind für diese Zeit dokumentiert.

Insgesamt fielen Schätzungen zufolge zwischen 3,5 und 4,5 Millionen Menschen dem „Holodomor“, dem „Hungertod“, zum Opfer. Seit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 bemüht sich die Ukraine um Anerkennung des „Holodomor“ als Völkermord.

Zum Thema „Holodomor 1932/33. Politik der Vernichtung“ hat die LpB Baden-Württemberg am 24. November 2007 eine Tagung in Mannheim veranstaltet. Zwei der Referentenbeiträge finden Sie hier:

Prof. Dr. Gerhard Simon: Der Holodomor als Völkermord. Tatsachen und Kontroversen (Textmanuskript)
Dr. Ernst Lüdemann: Stalins Feldzug gegen die Bauern in deutschen Schulbüchern (Textmanuskript)

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Die Ukraine im Zweiten Weltkrieg

Im Zweiten Weltkrieg geriet die Ukraine erneut zwischen die Fronten. Auch sie gehörte zu den „Bloodlands“ zwischen Hitler und Stalin, die der US-amerikanische Historiker Timothy Snyder beschrieben hat. Neben Polen, Weißrussland und dem Baltikum war die Ukraine einer der Hauptschauplätze des Zweiten Weltkrieges. Das Land litt enorm mit über acht Millionen Toten, darunter geschätzte fünf Millionen Zivilisten, die im deutschen Vernichtungskrieg ihr Leben lassen mussten.

Zunächst von vielen als „Befreier“ geradezu bejubelt, musste die ukrainische Bevölkerung nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion bald feststellen, dass auch das NS-Regime keinesfalls die Rettung der Ansässigen im Sinn hatte. Vielmehr war auch ukrainisches Territorium Ziel der deutschen Osterweiterung, in deren Rahmen Hitler für sein eigenes Volk einen neuen „Lebensraum im Osten“ schaffen wollte. Mehr als 2,4 Millionen Männer und Frauen wurden als sogenannte „Ostarbeiter“ aus der Ukraine, die von September 1941 an als „Reichskommissariat Ukraine“ von den Nationalsozialisten besetzt worden war, ins Deutsche Reich verschleppt, wo sie in zahlreichen Betrieben Zwangsarbeit leisten mussten und oftmals daran starben.

Allerdings sind auch Formen der Kollaboration mit den nationalsozialistischen Machthabern dokumentiert. Mit der Gründung nationaler Gruppierungen wie etwa der „Organisation Ukrainischer Nationalisten“ erhofften sich einige Ukrainer neuen Aufschwung eines von Hitler unterstützen Nationalstaats. Darüber hinaus wurden ukrainische Männer auch für das „Bataillon Nachtigall“ rekrutiert – ein Verband von Freiwilligen, der an der Seite der Wehrmacht gegen die Sowjetunion kämpfen sollte. Nachdem sich allerdings rasch gezeigt hatte, dass die Nationalsozialisten keineswegs die Nationalbestrebungen der Ukrainer unterstützen würden, wandten sich die Angehörigen des Bataillons bald auch gegen die deutschen Besatzer. Der Verband wurde schließlich entwaffnet. Einigen Offizieren gelang die Flucht, andere kamen in Gestapo-Haft.

Vernichtung jüdischen Lebens

Rund 1,6 Millionen Jüdinnen und Juden wurden in der Ukraine Opfer des Holocaust. An der jüdischen Bevölkerung, deren Leben auf dem Gebiet der heutigen Ukraine für über zweitausend Jahre dokumentiert ist, verübten die Nationalsozialisten auch mehrere Massaker. Neben Massenmorden an Jüdinnen und Juden in Charkiw, Berditschew und an anderen Orten ist das Massaker von Babyn Jar in der Nähe von Kiew das bis heute bekannteste Verbrechen der deutschen Wehrmacht auf ukrainischem Boden. In der Schlucht von Babyn Jar wurden mehr als 30.000 Menschen ermordet. Die wenigen Überlebenden wurden nach der Rückeroberung der Ukraine durch die Rote Armee 1944 Opfer antijüdischer Kampagnen durch die Sowjetunion.

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Die Ukraine nach 1945

Gebietsgewinne und Nationalismus

Bereits 1942 hatte sich die nationalistisch eingestellte „Ukrajinska Powstanska Armija“, die Ukrainische Aufständischen-Armee (UPA) gegründet, deren Ziel vor allem die Loslösung von der Sowjetunion und eine forcierte „Ukrainisierung“ war. So wurden über 100.000 in der Ukraine lebende Polen von der UPA ermordet, viele weitere wurden aus den Karpaten und Wolhynien vertrieben.

In den Nachkriegskonferenzen erlangte die wieder eingesetzte „Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik“ Gebiete Polens, Rumäniens und der Tschechoslowakei (zurück). Die Sowjetführung versuchte die Gebietsabtretungen, die die Ukraine in den Friedensverträgen von Brest-Litowsk und Riga hinnehmen musste, rückgängig zu machen, um das an der Sowjetunion orientierte Einflussgebiet gen Westen zu vergrößern.

Von der Entstalinisierung zur Re-Stalinisierung

Mit dem Tod Stalins im März 1953 endete auch die Verfolgung und der Terror in der Sowjetunion abrupt. War das ukrainische Gebiet bis weit in das 20. Jahrhundert hinein vor allem bäuerlich geprägt, so setzte nun eine Phase der Urbanisierung ein. Allerdings war die Ukraine nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu einem großen Teil zerstört. Die Bevölkerung litt unter bitterer Armut. Der Fokus der Sowjetführung galt indessen vor allem dem Osten des Imperiums, während der Westen – darunter auch die Ukraine – trotz vorangetriebener Industrialisierung zunächst eher strukturschwach blieb.

Dennoch verbesserte sich die Lage unter dem neuen Parteichef der KPdSU Nikita Chruschtschow. Dieser war zwischen 1938 und 1949 zehn Jahre lang Erster Sekretär der ukrainischen Kommunistischen Partei gewesen und bemühte sich nun um eine bessere Integration der Republik: Allmählich waren wieder mehr Ukrainer in den Kadern und Führungsgremien der Partei vertreten; auch der Druck auf die Bauern ließ nach. Im kulturellen Bereich erhielten die Befürworter einer „Ukrainisierung“ mehr Spielraum. Bis in die 1970er Jahre hinein wurde auch die Wiederaufwertung der ukrainischen Sprache bis in die Parteispitze hinein vorangetrieben.

Mit der Übernahme des Amts als Erster Sekretär der ukrainischen Kommunistischen Partei durch Wolodymyr Schtscherbyzkyj im Jahr 1972 erfuhr das nationale Selbstbewusstsein wiederum einen herben Dämpfer: Erneut setzten „Säuberungen“ der nationalen Elite ein; wieder einmal wurde die Russifizierung mit aller Kraft vorangetrieben.

Erst mit dem zunächst schleichenden Zusammenbruch des Sowjetsystems zu Beginn der 1980er Jahre gewannen die Stimmen der liberal orientierten Opposition wieder an Gewicht. Auch die Veränderungen, die Michail Gorbatschows Perestroika mit sich brachten, nahmen – wenn auch erst zögerlich – Einfluss auf die ukrainische Politik. Eine breite Wirkung in der Bevölkerung rief in diesem Zusammenhang die Katastrophe im Atomkraftwerk Tschernobyl am 26. April 1986 und der Umgang der Sowjetführung mit diesem Unglück hervor. Eine Fläche von fast 150.000 km² wurde radioaktiv verseucht. Der Vorfall hinterließ enorme Schäden für Menschen und Umwelt.

Dossier: Die Atomkatastrophe von Tschernobyl

Am 26. April 1986 explodierte der Reaktor in Tschernobyl. Was passierte damals genau? Wie viele Menschen starben? Und welche Folgen hat dieser schwere Unfall bis heute? Alle Informationen zur Katastrophe.

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Zusammenbruch der Sowjetunion und Nationalstaat

1989 hatten sich mehrere oppositionelle Gruppierungen zur „Volksbewegung“ („Ruch“) zusammengeschlossen. In den ersten freien Wahlen im März 1990 erreichte die Gruppierung knapp 25 Prozent der Stimmen. Vertrat die Ruch zu Beginn moderate Positionen gegenüber der Sowjetunion und setzte ihren Schwerpunkt auf kulturelle Themen, entwickelte sie sich bald zur herausragenden Bewegung der nationalen Unabhängigkeit – in deutlicher Opposition zur Kommunistischen Partei.

Nach dem gescheiterten Augustputsch in Moskau im Jahr 1991, in dessen Rahmen reaktionäre Kräfte vergeblich versucht hatten, Michail Gorbatschow als Präsidenten der Sowjetunion abzusetzen, erklärte die Ukraine gemeinsam mit weiteren Sowjetrepubliken ihre Unabhängigkeit. Über 90 Prozent der Bevölkerung bestätigten den Schritt zum Nationalstaat in einem Referendum am 1. Dezember 1991.

 

Die Loslösung der ehemaligen Republiken von der Sowjetunion kann dennoch nicht als vollumfänglicher Erfolg der nationalen Kräfte gelten. Die Entscheidung, Nationalstaat zu sein, beruhte mehrheitlich nicht darauf, dass sich die Bevölkerung von der Sowjetunion geistig verabschiedet hätte. Vielmehr waren die Entwicklungen Ausdruck einer Orientierung am westlichen Vorbild: Man glaubte, dass die wirtschaftlichen und politischen Probleme besser in nationalen Grenzen zu lösen seien. Das Referendum war letztlich keine Entscheidung für Kiew, sondern eine Entscheidung gegen Moskau, gegen den tradierten sowjetischen Zentralismus.

Für viele ehemalige Sowjetbürger – auch für die ukrainischen – bedeutete der endgültige Zusammenbruch der Sowjetunion, dass sie von heute auf morgen in einem anderen Land lebten. Viele Russen, die auf dem Gebiet der Ukrainischen Republik gelebt hatten, waren von einem Tag auf den anderen Ausländer im eigenen Land geworden. Ebenso erging es den zahlreichen Ukrainern, die nun auf russischem, nicht mehr auf unionssowjetischem Gebiet beheimatet waren.

Wem gehört die Krim?

Die schwierige Frage nach nationaler Zugehörigkeit und Befinden der Bewohner der ehemaligen Sowjetstaaten ist kompliziert zu beantworten. Exemplarisch zeigt das die Frage nach der Zugehörigkeit der Krim.

Am 8. April 1783 erklärte der Zarenhof nach dem Sieg im russisch-türkischen Krieg, in dessen Folge die Krim von Russland annektiert worden war: „Von nun an und für alle Zeiten ist die Krim Teil des russischen Reiches.“ Katharina die Große vertrieb einen Großteil der tatarischen Bevölkerung und siedelte vor allem russische Bauern an. Die Krim entwickelte sich in dieser Zeit zum wichtigsten strategischen Stützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte.

Im Zuge der bolschewistischen Korenisazija erhielt die Krim zunächst den Status einer Autonomen Sowjetrepublik. Diesen verlor sie allerdings unter Stalin wieder, der die Halbinsel fast vollständig von der tatarischen Minderheit „säuberte“ und die Krim unter russische Verwaltung stellte.

Nach mehr als 170-jähriger Zugehörigkeit der Krim zu Russland vermachte der neue Parteichef Nikita Chruschtschow die Halbinsel 1954 der Ukraine. Hintergrund war das 300. Jubiläum des Vertrags von Perejaslaw – aus russischer Sicht eines der wichtigsten Zeugnisse russisch-ukrainischer Beziehungen, in dessen Rahmen die Kosaken 1654 mehrheitlich den Treueid auf den russischen Zaren abgelegt hatten. Gleichzeitig verpflichtete sich der Zar, die Ukraine zu schützen, indem er Polen-Litauen den Krieg erklärte. Nationalukrainische Historiker bewerten den Vertrag hingegen als „Betrug“ des Zaren an den Kosaken. Diese hätten die Vereinbarung als eine Art Militärkonvention verstanden, der ihre Selbständigkeit wahrte. Der Zar habe sich mit dem Akt die Ukraine einfach einverleibt und die Bewohner zu Untertanen gemacht.

Die Schenkung der Krim an die Ukraine durch Chruschtschow muss vor diesem Hintergrund wohl als Ausdruck der Sowjetführung gesehen werden, die enge Verbundenheit der Unionsrepubliken nach russischer Lesart zu betonen – als Erneuerung der „Wiedervereinigung“ der Ukraine mit Russland, die im Vertrag von Perejslaw vollzogen worden war. Politisch allerdings änderte der Wechsel der Zugehörigkeit wenig. Auch die Bevölkerung blieb mehrheitlich russisch.

Trotzdem stimmten auch auf der Krim eine knappe Mehrheit der Bewohner im Rahmen des Referendums vom 1. Dezember 1991 für eine Loslösung von der Sowjetunion. Auch auf der Halbinsel dominierte aber eher die antizentralistische Stimmung, von der die Unionsrepubliken nach dem Zerfall der Sowjetunion erfasst waren, als dass das Votum Ausdruck eines selbstbewussten nationalen Bewusstseins gewesen wäre. Dennoch erkannte auch Russland die neuen Grenzen der ehemaligen Unionsrepubliken an.

 

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Zersplitterung der Parteienlandschaft und Suche nach Orientierung

Seit ihrer staatlichen Unabhängigkeit 1991 befindet sich die Ukraine auf der Suche nach einer Rolle in der internationalen Politik in einem Zwiespalt zwischen Neutralität, (westlicher) Identitätsbildung und pragmatischen Beziehungen zu Russland.

Nach der jahrzehntelangen Parteidiktatur der KPdSU wollte sich die Ukraine in den 1990er Jahren künftig mehr an demokratisch-parlamentarischen Strukturen und an marktwirtschaftlichen Prinzipien orientieren. War bislang die Sowjetunion die identitätsbildende Klammer der Unionsrepubliken gewesen, so waren die Staaten nach dem Zusammenbruch des Imperiums nun gezwungen, als „nationale Projekte“ ihrer multiethnischen Bevölkerung neue Identifikationsangebote zu machen. In der Ukraine wurden nationale Mythen (wieder-)belebt und Vorbilder des neuen Nationalstaats gesucht: Man fand sie vor allem in der Kiewer Rus, dem Hetmanat der Kosaken und in der Ukrainischen Volksrepublik.

Allerdings war das neue politische Herrschaftssystem weiterhin von den alten sowjetischen Eliten geprägt und beeinflusst, was die Demokratie- und Marktwirtschaftsbestrebungen massiv beeinflusste. Der erste Präsident der Ukraine, Leonid Krawtschuk, ein ehemaliger Kader der Kommunistischen Partei, hatte sich zwar bereits Anfang der 1990er Jahre zur nationalen Idee bekannt. Ein umfassender Systemwechsel war von ihm aber nicht zu erwarten.

Bei den ersten freien Parlamentswahlen 1994 und 1998 dominierte die Kommunistische Partei, die 1993 wieder zugelassen worden war. Die zweitstärkste Gruppierung bestand aus meist unabhängigen Abgeordneten, Funktionäre aus Politik und Wirtschaft, die dem Präsidenten nahestanden. Die Politik dieser Jahre war meist von persönlichen Kontakten und Seilschaften geprägt.

Allein Leonid Kutschma, Präsident der Ukraine seit 1994, ernannte in seiner Amtszeit bis 2005 sechs Ministerpräsidenten, die aus dem sogenannten „Klan“ von Dnipropetrowsk entstammten, einem Netzwerk von Oligarchen und Parteifunktionären. Zunehmend kontrollierte Kutschma auch die Regionalverwaltungen und schränkte die Macht des Parlaments ein. Darüber hinaus erlangte er auch schrittweise mehr Kontrolle über Medien und Journalisten.

 

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Neue Verfassung, Budapester Memorandum, Verhältnis zu Russland

Die 1990er Jahre brachten für die Ukraine wichtige Entwicklungen in der Innen- und Außenpolitik mit sich. 1996 verabschiedete das Parlament für die Ukraine als letzte ehemalige Sowjetrepublik eine neue Verfassung, die diejenige aus der Sowjetzeit von 1978 ersetzte. Der Präsident erhielt eine starke Stellung. Ihm gegenüber stand das ihn kontrollierende Parlament. In der Verfassung wurden Grundrechte garantiert, Ukrainisch zur Staatssprache erhoben und die Ukraine zum „Einheitsstaat“ erklärt – mit dem Bekenntnis zu einer Nation als „Volk der Ukrainer“, in dessen Rahmen alle Bewohner die ukrainische Staatsbürgerschaft erhielten. Gleichzeitig wurde den Minderheiten der Schutz ihrer Identitäten und Sprachen garantiert.

Außenpolitische Bedeutung erlangte unter anderem das „Budapester Memorandum“ vom 5. Dezember 1994. Darin verpflichteten sich die USA, Russland und Großbritannien zur Einhaltung der territorialen Unversehrtheit und politischen Unabhängigkeit Kasachstans, Belarus’ und der Ukraine. Im Gegenzug erklärten die Staaten einen Verzicht auf den Besitz nuklearer Waffen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion hatte die Ukraine 176 strategische und mehr als 2.500 taktische Atomraketen „geerbt“. Die ukrainischen Raketen wurden bis 1996 nach Russland abtransportiert oder zerstört. Nach dem Verzicht auf Kernwaffen intensivierten sich allmählich die Beziehungen zum Westen, nachdem die Ukraine zuvor international weitestgehend isoliert gewesen war.

Auch was die Beziehungen zu Russland angeht, war die Politik um pragmatische Entscheidungen bemüht. Anlässlich des Besuchs von Boris Jelzin in Kiew am 31. März 1997 schlossen Russland und die Ukraine einen Grundlagenvertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und Partnerschaft, der die Anerkennung staatlicher Souveränität bestätigte. Dennoch blieb vor allem für Russland das Verhältnis zum „Bruderstaat“ mit seiner Eigenständigkeit kompliziert. Reaktionäre, konservative und kommunistische (teilweise selbst liberale) Strömungen in Russland hielten an der Erzählung fest, die „russische Zivilisation“ – also Russland, die Ukraine und Belarus – müsse wiedervereint werden.

Die „multivektorale“ Außenpolitik, die die Ukraine unter Leonid Kutschma verfolgt hatte und die von pragmatischen Beziehungen zwischen der Ukraine, Russland und dem Westen geprägt war, geriet mit der „Orangenen Revolution“ zum Nachteil des Verhältnisses zu Russland und schließlich ins Wanken.

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Die Ukraine und die „Orangene Revolution“ 2004

Seit Ende der 1990er Jahre erlebte Leonid Kutschma einen zunehmenden Verlust seiner Legitimation. Nach dem Mord an einem Journalisten, in den Kutschma verwickelt war, organisierten junge Ukrainer im September 2000 in Kiew eine Demonstration mit mehreren Tausend Teilnehmern. An ihre Spitze setzten sich Julia Tymoschenko und Wiktor Juschtschenko, seit 1999 stellvertretende Ministerpräsidentin und Ministerpräsident der Ukraine.

Auch wenn Kutschmas Partei bei den Wahlen 2002 noch einmal als knappe Siegerin hervorging, war ihr Abstieg bereits besiegelt. Im März 2003 fanden sich mehr als 50.000 Demonstranten auf den Straßen. Die Staatsmacht reagierte mit Verhaftungen. Als 2004 die zweite Amtszeit Kutschmas auslief und er auf Grundlage der Verfassung von 1996 nicht wiedergewählt werden durfte, suchten politische und wirtschaftliche Eliten einen neuen Kandidaten, der ihre Machenschaften und ihre Macht nicht antasten würde. Sie fanden ihn in Wiktor Janukowytsch, der seit 2002 Ministerpräsident war und darüber hinaus den Donezker Klan hinter sich wusste.

Als aussichtsreichster Gegenkandidat trat Wiktor Juschtschenko auf. Hinter ihm standen unter anderem Julia Tymoschenko mit ihrem Wahlbündnis und die Sozialistische Partei Moroz. Während Janukowytsch offen vom Kreml unterstützt wurde, sprachen sich europäische und US-amerikanische Politiker für den Kurs Juschtschenkos aus, der eine soziale Marktwirtschaft, den Kampf gegen die Korruption und eine Annäherung an den Westen versprach.

Nachdem die Umfragen zunächst auf einen Sieg Juschtschenkos hindeuteten, gerieten die Eliten um Präsident Kutschma und den Kandidaten Janukowytsch in Panik. Sie verstärkten die Propaganda und betrieben eine kurzfristige Klientelpolitik. Am 5. September 2004 wurde Juschtschenko bei einem Abendessen mit Dioxin vergiftet. Er überlebte, war aber für länger Zeit im Wahlkampf außer Gefecht gesetzt. Für seine Unterstützer allerdings galt er fortan als Märtyrer.

Aus dem ersten Wahlgang am 31. Oktober waren Janukowytsch und Juschtschenko wie erwartet als Sieger hervorgegangen. Die Stichwahl am 21. November hatte Janukowytsch knapp für sich entschieden. Wie sich allerdings bald zeigte, waren die Ergebnisse manipuliert worden. Der Wahlbetrug rief heftige Proteste hervor: In den folgenden Tagen kamen jeden Abend mehr als 500.000 bis zu einer Million Menschen auf dem Majdan, dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz, zusammen. Die Farbe Orange, die Wiktor Juschtschenkos Anhänger bereits im Wahlkampf verwendet hatten, gab den Ereignissen ihren künftigen Namen: die „Orangene Revolution“. Juschtschenko selbst erklärte sich am 23. November zum Sieger der Stichwahl und legte den Eid auf die Verfassung ab. Auch wenn es aus Janukowytschs Lager nun zu Gegenprotesten kam – die Demonstranten wurden vor allem aus den ostukrainischen Regionen nach Kiew gebracht – musste das Regierungslager seine Niederlage schließlich eingestehen: Die Wahl Janukowytschs wurde für ungültig erklärt und Neuwahlen für den 27. Dezember angesetzt, aus denen nun Juschtschenko als deutlicher Gewinner hervorging. Am 23. Januar 2005 wurde er als dritter Präsident der Ukraine vereidigt.

2004: Wer wählte wen?

Die Auszählung der Wahl vom 27. Dezember zeigt, dass vor allem der Osten und Süden der Ukraine nach wie vor in ihrer Ausrichtung gespalten waren. Während der westlich orientierte Wiktor Juschtschenko vor allem in der West- und Nordwestukraine Ergebnisse von bis zu 95 Prozent Zustimmung erhielt, unterstützte die Bevölkerung im Osten der Ukraine mehrheitlich den kremltreuen Wiktor Janukowytsch. Vor allem auf der Krim und im Donbass erlangte Janukowytsch über 80 und bis zu 90 Prozent der Stimmen. In der Zentral- und Südukraine hingegen lassen sich nur weniger deutliche Tendenzen für einen Kandidaten ausmachen.

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Machtkämpfe bis 2010

Bis 2010 war die Politik in der Ukraine vor allem durch innere Machtkämpfe geprägt. Wiktor Juschtschenko verlor in der Bevölkerung bald an Rückhalt, unter anderem weil er sich mit seiner ehemaligen Verbündeten Julia Tymoschenko zerstritten hatte und fortan auf seinen Vertrauten Petro Poroschenko setzte. Versprochene Reformen fanden kaum Umsetzung.

Außenpolitisch war die Präsidentschaft Juschtschenkos geprägt von einer Annäherung an den Westen und Konflikten mit Russland. Bereits 2005 hatte der Präsident bekräftigt, dass die Ukraine das Ziel habe, in die EU und in die NATO aufgenommen zu werden. Während der Invasion Russlands in Georgien 2008 bezog Juschtschenko klar Stellung gegen den „großen Bruder“. Die Auseinandersetzungen mit Russland gingen sogar soweit, dass der ukrainische Präsident drohte, den Vertrag mit Russland in Bezug auf die Stationierung der Schwarzmeerflotte in Sewastopol nicht zu verlängern. Russland drohte daraufhin, den 1997 mit der Ukraine geschlossenen Freundschaftsvertrag zu kündigen – ein Schritt, der auch die Anerkennung der territorialen Unabhängigkeit der Ukraine negiert hätte.

Trotz der prowestlichen Politik Juschtschenkos verschlechterte sich sein Ansehen auch in weiten Teilen seiner Unterstützer. Die Parlamentswahlen im März 2006 brachten der „Partei der Regionen“ von Wiktor Janukowytsch den Sieg, während Juschtschenkos Partei „Unsere Ukraine“ noch hinter dem „Tymoschenko-Block“ auf Platz drei landete. Am 4. August 2006 wurde Wiktor Janukowytsch – auch mit Unterstützung aus den Reihen von Akteuren der „Orangenen Revolution“ – zum Ministerpräsidenten gewählt. Auch diese fragile Koalition hielt nicht lange, sodass Juschtschenko bereits 2007 Neuwahlen ansetzte. Nachdem Tymoschenkos Block mit beachtlichen Zugewinnen aus der Wahl hervorgegangen war, bildete sich eine erneute Koalition zwischen „Unserer Ukraine“ und Tymoschenkos Partei, die sich alsbald wiederum in Streitigkeiten aufrieb.

Bis 2010 konnten die Akteure der Revolution kaum Reformen auf den Weg bringen. Die wirtschaftliche und soziale Lage war disparat. Das Parlament war meist Schauplatz von gegenseitigen Vorwürfen bis hin zu Handgreiflichkeiten. In der Bevölkerung hatte vor allem Wiktor Juschtschenko sein Ansehen verspielt.

 

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Die Präsidentschaft Janukowytschs bis 2014

Wenig überraschend konnte Wiktor Janukowytsch, wenn auch knapp, die Präsidentschaftswahl 2010 mit 48,98 Prozent im zweiten Wahlgang gegen Julia Tymoschenko (45,48 %) für sich entscheiden. Zwar weniger polarisierend als noch bei der Wahl 2004, aber dennoch deutlich gab es erneut eine klare Trennung zwischen der Unterstützung für den eher nach Russland orientierten Janukowytsch im Osten und Süden und für die eher europäisch-westlich ausgerichtete Kandidatin Tymoschenko im Zentrum, Norden und Westen des Landes.

Die Politik Janukowytschs war in der Folgezeit geprägt von Einschüchterungen seiner Gegner, hartem Vorgehen gegen missliebige Presse und einer Reihe von Verordnungen, die dem Präsidenten eine neue Machtfülle bescherten. Zahlreiche ehemalige Abgeordnete und Politiker wurden in Schauprozessen des angeblichen Amtsmissbrauchs angeklagt und inhaftiert – so auch Julia Tymoschenko, die zu sieben Jahren Haft verurteilt wurde.

Darüber hinaus verfolgte Wiktor Janukowytsch das Ziel, die Oligarchen, die bisher unterschiedliche Parteien unterstützt und damit großen Einfluss auf die Politik ausgeübt hatten, aus ihrem Einflussgebiet zurückzudrängen. Stattdessen baute der Präsident selbst ein System aus Vertrauten und Geschäftspartnern auf, anhand derer er sich zu bereichern suchte.

 

Außenpolitisch verfolgte Janukowytsch einen gemäßigteren Weg als sein Vorgänger Juschtschenko: Er hielt weiterhin an einer Annäherung an die EU fest, pflegte aber auch gute Beziehungen zu Russland. So führte etwa ein 2012 verabschiedetes Sprachengesetz zum Schutz der Minderheiten dazu, dass vor allem im Osten und Süden des Landes Russisch de facto zur zweiten Amtssprache erhoben wurde. Ab 2010 führte die Ukraine Verhandlungen sowohl mit der EU über ein Assoziierungsabkommen, das eine weitreichende Integration des Landes in den europäischen Wirtschaftsraum in Aussicht stellte, als auch mit Russland über den Beitritt der Ukraine in die von Russland ins Leben gerufene Zollunion, die das Ziel hatte, möglichst viele ehemalige Sowjetstaaten in einem neuen Wirtschaftsraum zu vereinen. Vor allem vor dem Hintergrund dieser Entscheidung entflammten ab 2013 Massenproteste, die die Situation der Ukraine in den kommenden Jahren massiv beeinflussen sollten.

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Der Euromajdan 2013/14

Die Regierung Janukowytsch hatte viele Anhänger enttäuscht zurückgelassen: Die Einkommen der breiten Bevölkerung waren weiterhin niedrig und es herrschte bittere Armut, während sich der Reichtum bei einigen Wenigen konzentrierte. Historiker wie etwa Andreas Kappeler vermuten, dass nur Schwarzmarktgeschäfte und illegaler Handel innerhalb der Bevölkerung eine größere Hungerkatastrophe verhinderten.

So gab es seit 2012 vereinzelt immer wieder Proteste und größere Aufmärsche, in denen sich der Unmut über die Regierung Luft verschaffen konnte. Der Opposition fehlte allerdings eine echte Führungsfigur, die nicht im Gefängnis saß oder mit den „alten“ Eliten verbunden war, die sich an die Spitze einer neuen Bewegung hätte setzen können.

Zu landesweiten, großen Demonstrationen kam es erst, als die Regierung am 21. November – für viele überraschend – den Stopp der Verhandlungen über das Assoziierungsabkommen mit der EU verkündete. Offenbar hatte Präsident Janukowytsch dem Druck aus Russland nachgegeben.

Am Abend des 21. November rief der Journalist Mustafa Najem in den Sozialen Netzwerken dazu auf, sich auf dem Majdan in Kiew zu versammeln. Diesem und weiteren Aufrufen folgten zunächst rund 2.000 Menschen. Auch prominente Persönlichkeiten, von Popstars über Kulturschaffende bis hin zu oppositionellen Politikern, riefen dazu auf, gegen die Regierung auf die Straße zu gehen – neben vielen vor allem demokratisch und westlich orientierten Parteien und Gruppierungen auch die „Swoboda“, eine rechtsextreme Partei, die sich in der Nachfolge der „Organisation Unabhängiger Nationalisten“ (OUN) sah. Diese und weitere rechtsextreme Gruppierungen glaubten, in den Protesten die Chance ergreifen zu können, den moskauzentrierten Kurs der Regierung zu beenden und einen nationalistischen Kurs einzuschlagen.

Innerhalb weniger Tage stieg die Zahl der Demonstranten auf dem Majdan auf über 10.000 an. Auch in anderen Städten der Ukraine bildeten sich große Protestbewegungen und Menschenketten, so etwa in Lwiw. Als die militärische Spezialeinheit „Berkut“ den Majdan am 30. November gewaltsam zu räumen versuchte, wuchs der Protest noch einmal enorm an: Schätzungsweise bis zu 800.000 Menschen versammelten sich nun auf den Straßen. In Kiew rief die Opposition zu einem Generalstreik auf; das Kiewer Rathaus wurde besetzt. Anfang Dezember eskalierte die Gewalt erneut auf beiden Seiten. Am 8. Dezember kam es zu einem „Marsch der Millionen“, an dem nach Angaben der Opposition mehr als eine Million Menschen teilnahmen.

Im Dezember besuchten auch mehrere westliche Politiker den Majdan und solidarisierten sich mit den Demonstranten. Aus Sicht des Kreml musste dieser „Schulterschluss“ bedrohlich wirken: Der russische Außenminister Sergej Lawrow warnte den Westen sogar davor, sich in die Angelegenheiten der Ukraine einzumischen, und drohte mit Konsequenzen. Russland sah sich weiterhin als „Nachlassverwalter“ des ehemaligen Imperiums und als Schutzmacht der ehemaligen Republiken. Eine Einmischung der westlichen Politik musste für den Kreml wie ein weiterer Schritt der Ukraine Richtung EU und NATO erscheinen.

 

Die ukrainische Staatsmacht reagierte auf die anhaltenden Proteste mit willkürlichen Verhaftungen und eskalierender Gewalt – die von Seiten der Demonstranten wiederum mit Gewalt beantwortet wurde. Am 28. Januar 2014 erklärten Ministerpräsident Mykola Asarow und seine Regierung zwar ihren Rücktritt, die gewalttätigen Ausschreitungen setzten sich jedoch zunächst ungemindert fort. Allein am 20. Februar starben 48 Personen. Zwar handelten Teile der Opposition am darauffolgenden Tag ein Abkommen aus, das unter anderem Neuwahlen für Dezember vorsah; vielen Demonstranten gingen die Schritte aber nicht weit genug. Sie forderten den sofortigen Rücktritt von Präsident Janukowytsch und setzten ihre Proteste ungemindert fort. Am 22. Februar kündigte das Innenministerium an, man unterstütze fortan mit allen dem Ministerium unterstehenden Einheiten, etwa der Polizei, die Seite der Opposition. Auch Geheimdienst und Armee schlossen sich der Opposition an. Am selben Tag stimmte das Parlament für die Amtsenthebung Janukowytsch und setzte Neuwahlen für den kommenden Mai an. Am 24. Februar erkannte auch die Europäische Kommission die Amtsenthebung Janukowytschs und dessen Interimsnachfolger Oleksandr Turtschynow an.

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Wer waren die Demonstranten?

Untersuchungen zu den Demonstrationen auf dem Majdan können inzwischen ein recht differenziertes Bild der Protestierenden nachzeichnen. Die Mehrheit der Demonstranten war männlich (knapp 60 %), zwischen 30 und 54 Jahren alt (rund 55 %) und stammte aus vorwiegend gebildeten und urbanen Teilen der Gesellschaft. Als Hauptgegenstand der Proteste galt bis zum November 2013 zunächst der Unmut über die Nichtunterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU. Spätestens mit der zunehmenden Gewalt von Seiten der Regierung Ende November 2013 kanalisierten sich die Proteste allerdings zunehmend hin zur Absetzung der Regierung und dem Ende der Korruption im Land.

Unbestritten ist, dass an den Protesten auch rechtsextreme Parteien und Gruppierungen beteiligt waren, die teilweise auch für die Eskalation der Gewalt von Seiten der Demonstranten verantwortlich gemacht werden konnten. Um ihre Forderungen auch auf parlamentarischem Weg voranzubringen, arbeiteten sowohl Julia Tymoschenkos Partei „Vaterland“ als auch die von Witali Klytschko gegründete „Ukrainische demokratische Allianz für Reformen“ (UDAR) mit der rechtsextremen Swoboda zusammen. Inwieweit die Partei allerdings Einfluss auf die Demonstranten besaß, ist umstritten. Bei Umfragen zu Parlamentswahlen im April 2014 erreichte die Swoboda lediglich 3,5 Prozent (2012: rund 10 %), der „Rechte Sektor“, eine weitere auf dem Majdan vertretene rechtsextreme Partei, erhielt 1,8 Prozent der Stimmen.

 

Die Folgen des Euromajdan

Die Annexion der Krim

Russlands Präsident Wladimir Putin hatte die Vorgänge auf dem Majdan mit Argwohn betrachtet. Er sah die vermeintliche Einmischung der westlichen Politik als Bedrohung der „allrussischen“ Welt – gesellschaftlich wie auch wirtschaftlich. Noch im September 2013 hatte er sich in einer Rede zur Unabhängigkeit der ukrainischen Nation bekannt. Gleichzeitig zeigen seine Ausführungen, dass er die „Kiewer Rus“ und damit auch die heutige Ukraine als Teil der großen russischen Geschichte sieht: „Die Ukraine ist ohne Zweifel ein unabhängiger Staat. So hat sich die Geschichte entwickelt. Aber lasst uns nicht vergessen, dass der heutige russische Staat seine Wurzeln am Dnjepr hat. […] Die Ukraine ist ein Teil unserer großen russischen oder russisch-ukrainischen Welt.“ In den Gebieten im Osten und Süden der Ukraine verfing die russische Propaganda weiterhin. Aus diesen Regionen regte sich – wenn auch bisweilen zögerlicher – Widerspruch gegen die Forderungen der Majdan-Demonstranten.

Vor allem aber in Kiew und den größeren urbanen Zentren im Zentrum und Westen des Landes hatte die ukrainische Zivilgesellschaft allerdings auch gezeigt, dass sie sich als selbstbestimmte, demokratische Nation verstanden wissen wollte, die bereit war, sich aus der „Umarmung“ des „großen Bruders“ zu lösen.

Es ist anzunehmen, dass Präsident Putin befürchtete, die Revolution könnte als Blaupause für die heimische Opposition dienen und auch in Russland für Unruhen sorgen. Russland reagierte zunächst mit massiven Anschuldigungen gegen die Demonstranten in der Ukraine: Die Aufstände seien vom Westen initiiert; sie seien von militanten Nationalisten, Faschisten und Antisemiten organisiert. Diese bedrohten die russische Bevölkerung in der Ukraine und hätten die „Ausrottung“ alles Russischen zum Ziel. All diese Behauptungen konnten allesamt eindeutig widerlegt werden. So wurde die Krim – hier lebten rund 59 Prozent ethnische Russen und nur 24 Prozent Ukrainer – zum Ziel der russischen Destabilisierungspolitik der Ukraine. Unterstützt von russischen Politikern, besetzten im Februar 2014 Soldaten das Regierungsgebäude der seit 1994 „Autonomen Republik“ Krim und setzten mit Sergij Askenow einen neuen Ministerpräsidenten ein. Dieser setzte für den 17. März ein Referendum über die Wiedervereinigung der Krim mit Russland an und bat den russischen Präsidenten um militärische Hilfe zum „Schutz der russischen Bevölkerung auf der Krim“.

Trotz Fälschungen der Ergebnisse gehen Beobachter davon aus, dass dennoch eine Mehrheit der Krim-Bewohner für die Wiedervereinigung mit Russland stimmte. Am 20. März wurde die Krim offiziell Teil Russlands. Unter anderem wurde der Rubel als Zahlungsmittel eingeführt, die Krim in offizielle russische Karten integriert und die Bewohner erhielten die russische Staatsbürgerschaft. Die ukrainische – und vor allem die krimtartarische – Minderheit war hingegen Repressionen ausgesetzt. Die westliche Politik reagierte auf den Bruch des Völkerrechts mit harten Sanktionen gegen Russland. Im eigenen Land allerdings erfreute sich Putin größter Beliebtheit: Die Mehrheit der russischen Bevölkerung stand voll und ganz hinter der Einverleibung der Krim.

Destabilisierung in der Ostukraine

Die Argumentation Putins zur Annexion der Krim – die russischen Bürger in der Ukraine seien bedroht – galt in der Folge auch für die Aggression im Donbass im Osten des Landes. Als Gebiet des Steinkohlebergbaus und der Schwerindustrie war die Region seit jeher von großer Bedeutung zunächst für das russische Imperium, später auch für die Sowjetunion. Viele Bewohner des Donbass – rund 40 Prozent Russen – verklärten noch immer das angeblich „Goldene Zeitalter“ unter den Sowjets.

Ähnlich wie im Vorfeld der Krim-Annexion lief auch hier die russische Propaganda vom angeblichen Genozid an den Russen durch das Kiewer Regime auf Hochtouren. Nach der Absetzung Janukowytschs mehrten sich die prorussischen Demonstrationen etwa in Charkiw, Donezk und Luhansk.

Im April 2014 besetzten prorussische Aktivisten die Gebäude der Regionalverwaltung – meist ohne Gegenwehr der örtlichen Behörden. Nach (freilich manipulierten) Volksabstimmungen wurden die beiden „Souveränen Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk ausgerufen. Die Separatisten wurden von Russland mit Waffen unterstützt. Wenn auch zahlenmäßig wenige, schufen sie doch ein Klima der Angst und stürzten den Donbass in ein beinahe anarchistisches Chaos. Allerdings erlangten Städte wie Charkiw, Dnipropetrowsk und Odessa bald die Kontrolle zurück. Trotz russischsprachiger Mehrheit zeigte sich, dass die meisten Menschen weiterhin bereit waren, an einer unabhängigen Ukraine festzuhalten.

Minsker Abkommen

Trotz der instabilen Lage in Teilen des Landes konnten die Präsidentschaftswahlen in der Ukraine am 25. Mai 2014 regulär durchgeführt werden. Aus ihnen ging der Oligarch Petro Poroschenko bereits im ersten Wahlgang als Sieger hervor. Selbst im Süden und Osten der Ukraine erhielt er die Mehrheit der Stimmen.

Poroschenkos größte Herausforderung bestand nun darin, die Auseinandersetzungen im Osten des Landes zu beenden und die Souveränität des Territoriums wiederherzustellen. Die Verhandlungen für einen „Friedensplan“, der unter anderem den einzelnen Regionen mehr Macht zusichern sollte, scheiterte im Juni trotz Zustimmung auch durch den russischen Präsidenten am Widerstand der Separatisten. Infolgedessen kam es zu immer heftigeren kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen dem ukrainischen Militär und den prorussischen Separatisten. Am 17. Juli schossen letztere ein Passagierflugzeug der Malaysian Airlines ab – im Glauben, es habe sich um eine ukrainische Militärmaschine gehandelt.

Die westliche Politik reagierte auf die mehr oder weniger offene Unterstützung der Separatisten durch Russland mit weiteren Sanktionen, die ihre Wirkung nicht verfehlten: Am 3. September legte Präsident Putin einen Vorschlag zur Waffenruhe vor. Zwei Tage später einigten sich in Minsk Vertreter der Ukraine, der Separatisten, Russlands und der OSZE schließlich auf eine Waffenruhe und den Austausch von Gefangenen – ein erster Schritt hin zum Abkommen, das schließlich am 12. Februar 2015 unterzeichnet wurde. Einer der zentralen Punkte des Abkommens legte fest, dass die Ukraine die vollständige Kontrolle über das Gebiet innerhalb ihrer Staatsgrenzen zurückerlangen sollte.

Zur ausführlichen Darstellung und zu den aktuellen Entwicklungen

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Die Ukraine seit 2015

Das Abkommen „Minsk 2“ vom 12. Februar 2015 existierte bald nur noch auf dem Papier. Der unausgesprochene Krieg zwischen Russland und der Ukraine wurde auch in der Folgezeit fortgeführt. Russland hielt an seinem Ziel – der Destabilisierung der Ukraine – weiterhin fest. Die Ukraine auf der anderen Seite beharrte weiterhin auf der Souveränität der Krim und des Donbass.

Innenpolitisch wurden, verstärkt seit 2016, einige Reformen angegangen, deren Umsetzung teilweise auf den Forderungen der westlichen Geldgeber (EU, IWF) basierten: etwa im Justizwesen, in der Verwaltung und bei der Bekämpfung der Korruption. Der erhoffte wirtschaftliche Aufschwung blieb allerdings teilweise aus, was zu erneuter Unzufriedenheit in der Bevölkerung führte.

Aus der Präsidentenwahl am 31. Mai 2019 ging der Jurist und Schauspieler Wolodymyr Selenksyj bereits im ersten Wahlgang mit über 70 Prozent der Stimmen als Sieger hervor. Seit 2016/17 war er einem breiten Publikum durch die Fernsehsendung „Diener des Volkes“ bekannt geworden, in der er einen Geschichtslehrer spielt, der durch eine zufällig in den Sozialen Netzwerken gelandete Wutrede über Nacht zum Präsidenten wird.

Unterstützt wurde Selenskyj durch den Oligarchen Ihor Kolomjskyj, dem Mehrheitseigner des Fernsehsenders „1+1“, der die Sendung „Diener des Volkes“ ausgestrahlt hatte. Selenskyj betonte allerdings immer wieder seine politische Unabhängigkeit von Kolomjskyj.

Seit seinem Amtsantritt hat Selenskyj einige Reformen auf den Weg gebracht; darunter etwa ein Lobbygesetz, das den Oligarchen künftig eine Finanzierung von Parteien verbietet. Trotz einer forcierten Annäherung an den Westen hielt Selenskyj an Friedensgesprächen mit Russland fest. Seit 2019 kam es zu mehreren Telefonaten der beiden Präsidenten und mehrere Gefangenenaustausche wurden realisiert.

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Übersicht: Chronologie der Ukraine 1991-2022

Eine ausführliche Darstellung der Ereignisse von 2014 bis 2022 finden Sie auf unserer Seite:

Chronologie des Ukraine-Konflikts

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Autor: Andreas Schulz, LpB BW. Letzte Aktualisierung: März 2022

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