Revolutionen in Ungarn

Umbruch 1989/90 und frühere Bewegungen

Ungarn war das Land, in dem damals der Mauerfall in Berlin seinen Anfang nahm. Im Februar 1989 entschloss sich die dortige Parteiführung den „Eisernen Vorhang“ an der ungarisch-österreichischen Grenze langsam einzureißen. Diese symbolträchtige Entscheidung signalisierte eine außenpolitische Neuorientierung des Regimes und ermöglichte im August 1989 Hunderten von DDR-Bürgern, in die Freiheit auf die österreichische Seite der Grenze zu gelangen. Der „Eiserne Vorhang“ als Symbol des Kalten Krieges verlor Dank der beherzten Entscheidung Ungarns seine Funktion.

Vorangegangen war dieser Entwicklung eine jahrzehntelange Ära unter der Herrschaft von Janos Kádár, der Ungarn unter verschiedenen politischen Ämtern de facto leitete. Nach der mithilfe der sowjetischen Armee durchgeführten blutigen Niederschlagung des Volksaufstandes hatte er bereits 1956 als Parteichef der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei die Macht übernommen und das Land bis zu seinem Rücktritt 1988 entscheidend geprägt.

Frühere Revolutionen

Ungarische Revolution 1848/49 – Unabhängigkeitskrieg

1848/49 wurde ein großer Teil Mitteleuropas von bürgerlich-demokratisch motivierten Revolutionen erfasst. Der Geist der Revolution griff rasch auch auf das Kaisertum Österreich und die unter der Habsburger Monarchie stehenden Länder über. Unter anderen somit auch auf das Königreich Ungarn.

Die Revolution im Königreich Ungarn entwickelte sich zu einem Unabhängigkeitskrieg gegen die Vorherrschaft der österreichischen Habsburger. Begonnen hatte die Revolution in Ungarn im März 1848, als in Pest und Buda gewaltlose Massendemonstrationen den kaiserlichen Gouverneur dazu zwangen, alle 12 Punkte der ungarischen Revolutionäre zu akzeptieren, in denen unter anderem Pressefreiheit, die Aufhebung von Zensur und Frondienst gefordert wurden. Darauf folgten mehrere Aufstände im gesamten Königreich, die dazu führten, dass die ungarischen Reformkräfte eine neue Regierung für Ungarn mit Lajos Batthyány als Premierminister ausriefen. Die neue Regierung verabschiedete umfassende Staatsreformen, die so genannten April- oder auch Märzgesetze, die die Schaffung eines demokratischen Staates in Ungarn zum Ziel hatten.

Da sich auch in Wien revolutionäre Ereignisse abspielten, akzeptierte Österreich zunächst die ungarische Regierung. Nachdem aber die Revolution in Wien niedergeschlagen war und Franz Joseph I. seinen Onkel Ferdinand I. als Kaiser abgelöst hatte, verweigerte sie der neuen Regierung ihre Akzeptanz. Schlussendlich kam es zum Bruch zwischen Wien und Pest.

Der kaiserliche Hof befahl schließlich die Auflösung des ungarischen Parlaments und der Regierung. Der Krieg zwischen Österreich und Ungarn begann offiziell am 3. Oktober 1848. Infolge mehrerer Siege proklamierte Ungarn im April 1849 die Unabhängigkeit vom Habsburger Reich, bei Fortbestehen einer Personalunion mit Österreich. Lajos Kossuth ließ sich als Reichsverweser bestätigen und waltete mit diktatorischer Allmacht.

Es war jedoch zu erwarten, dass die Habsburgermonarchie im Falle eines Wiedererstarkens jede sich bietende Chance nutzen würde, um ihre reale Oberhoheit wiederherzustellen. Kaiser Franz Joseph ersuchte den russischen Zaren Nikolaus I. um militärische Unterstützung. Die vereinten russischen und österreichischen Verbände waren zusammen über 250.000 Mann stark und übertrafen damit die ungarische Armee bereits um das Doppelte. Schließlich kam es im Herbst 1849 zur Kapitulation Ungarns.

Nach dem Krieg 1848/49 befanden sich große Teile Ungarns in „passivem Widerstand“, jegliche Unabhängigkeits- oder Autonomiebestrebungen wurden unterdrückt. (Quelle: Ungarische Revolution 1848/49, Wikipedia)

Asternrevolution 1918 – Gründung der Republik Ungarn

Im Königreich Ungarn, das derzeit Teil der kaiserlich- und königlichen Doppelmonarchie Österreich-Ungarns war, wurde der Ruf nach Befreiung aus der Monarchie nach Ende des Ersten Weltkrieges immer lauter. Im Herbst 1918 kam es zu Streiks und Unruhen unter Soldaten und der Bevölkerung. Sie fanden in Budapest und anderen Städten Ungarns vom 28. bis zum 31. Oktober 1918 statt und wurden Asternrevolutionen genannt. Die Soldaten steckten sich weiße Astern an ihre Mützen, von denen sie das k. und k.-Emblem gerissen hatten. Am 31. Oktober beendete Ungarn die Realunion mit Österreich, und am 16. November 1918 rief Mihály Károlyi die Republik Ungarn aus.

Ungarn-Aufstand 1956

Der Ungarn-Aufstand im Herbst 1956 nahm seinen Ausgang in einer studentischen Bewegung, die sich im friedlichen Protest für demokratische Reformen einsetzte. Zehntausende Bürger schlossen sich ihnen an. Ein Teil des Demonstrationszuges marschierte zum Rundfunkgebäude, um die Forderungen nach politischen Reformen über den Sender zu verbreiten. Doch plötzlich wurde aus dem Rundfunkgebäude das Feuer auf die Demonstranten eröffnet. Daraufhin händigten ungarische Soldaten den Demonstranten Waffen aus, unter Waffeneinsatz wurde der Sender gestürmt.

Bald wurde aus den Demonstrationen ein Aufstand, der sich über das gesamte Land ausweitete. Am 30. Oktober verkündete der neue Regierungschef Imre Nagy, ein Reformkommunist, das Ende der Einparteienherrschaft und die Bildung einer Mehrparteienregierung. Am 1. November erklärte Ungarn seine Neutralität und den Austritt aus dem Warschauer Pakt. Ab 4. November schlugen sowjetische Truppen in blutigen Kämpfen bis zum 15. November den Aufstand nieder. Besonders in Budapest gab es heftige Kämpfe. Etwa 2.500 Aufständische verloren ihr Leben, über 200.000 Ungarn flohen ins westliche Ausland.

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Ära Kádár und Transformation

Janos Kádár, der nach der mithilfe der sowjetischen Armee durchgeführten blutigen Niederschlagung des Volksaufstandes im November 1956 als Parteichef der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (MSZMP) die Macht übernommen hatte, verfolgte zunächst einen mehrjährigen gnadenlosen Repressionskurs gegen die sogenannten Konterrevolutionäre. Etwa ab Mitte der 1960er Jahre zeichnete sich eine weichere Variante der kommunistischen Einparteienherrschaft ab, der eine Reihe von Wirtschaftsreformen vorausgegangen war. Hierbei handelte es sich keineswegs um die Aushöhlung der Grundprinzipien des Kommunismus. In der gelenkten Öffentlichkeit blieben einige Themen weitgehend unantastbar. Die Legitimität des Systems durfte nicht infrage gestellt werden, beispielsweise die Notwendigkeit der Diktatur des Proletariats, die sowjetische Besatzung oder die staatlich gelenkte zentralisierte Planwirtschaft. Nichtsdestotrotz vollzogen sich nach und nach auf innenpolitischer Ebene einige Veränderungen, die sich in einem milderen Auftreten gegenüber oppositionellen Gedanken niederschlugen. Oppositionelle Handlungen, egal ob mit Worten oder in anderer Form, waren zwar weiterhin verboten, aber man hatte das Gefühl, dass es nicht mehr verpflichtend ist, an das System zu glauben.

Der wirtschaftliche Niedergang des sozialistischen Systems

Die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate des Nationaleinkommens erreichte ihren Höchststand in den Jahren 1961–65. In den Jahrzehnten zuvor konnte Ungarn noch ein robustes Wirtschaftswachstum erzielen, indem neue Arbeitskräfte, die im Zuge der Modernisierung der Landwirtschaft dort nicht mehr weiterbeschäftigt werden konnten, sowie neue kapital- und rohstoffintensive Investitionen einbezogen wurden. Das starre, bürokratische staatliche Wirtschaftsmanagement war jedoch nicht in der Lage, eine technologische Entwicklung umzusetzen, die es ermöglicht hätte, Wirtschaftswachstum durch Steigerung von Effizienz und Produktivität zu erreichen. Dies wäre dringend notwendig gewesen, um der Ölpreisexplosion durch den Einsatz effizienterer Technologien entgegenzusteuern, was der widerstandsfähigen westlichen Marktwirtschaft nach einer kurzen Anpassungsphase gelang. Ungarn, wie die anderen sozialistischen Länder hingegen konnten kein neues Wachstumsmodell finden, um sich an die sich ändernden Herausforderungen der Weltwirtschaft anzupassen. Eine lange Phase des Verfalls, die als Stagnation bezeichnet wird, setzte ein.

Infolge des verfehlten Wirtschaftsmanagements konnte die wirtschaftliche Entwicklung nicht zu einem Anstieg des Lebensstandards führen, den die Systemführer für notwendig erachtet hätten. Da die Kádár-Führung aufgrund der Erinnerung an die Revolution von 1956 große Angst vor einem Rückgang des Lebensstandards hatte, bemühte sie sich auch um einen Lebensstandard auf Kosten einer steigenden Staatsverschuldung. Dies führte schließlich dazu, dass das Land in den frühen 1980er Jahren fast zahlungsunfähig wurde und erst durch die Mitgliedschaft in der Weltbank und im Internationalen Währungsfonds im Jahr 1982, von dem es Kredite erhalten hatte, vor der Staatsinsolvenz bewahrt wurde. Aufgrund der stetig steigenden Inflation, die sich in den Import- und Rohstoffpreisen immer stärker bemerkbar machte, sah sich schließlich die Regierung gezwungen, Preise für eine Reihe von Festpreisprodukten dem Marktpreis anzunähern.

Wachsende Notwendigkeit einer Transformation

Aufgrund der zuvor erwähnten Umstände wurde den Entscheidungsträgern zunehmend klar, dass die Wirtschaftsreformen, die zusammenfassend als Reformsozialismus bezeichnet werden, sowie das ganze sozialistische System in Ungarn wie auch in den anderen Ländern des sowjetischen Einflussbereichs keinen Bestand zu haben vermögen. Dass es trotzdem nicht zu Unruhen kam, war nicht zuletzt der im Verhältnis zu anderen Machthabern der sowjetischen Einflusssphäre entschärften Machtpraxis Kádárs zu verdanken. Dies war geprägt durch einen für sozialistische Verhältnisse hohen Lebensstandard, eine verhältnismäßig entpolitisierte Öffentlichkeit, die Gewährung einiger im Ostblock als unüblich geltenden Freiheiten wie Westreisen, die Möglichkeit, ein weitgehend unbehelligtes Privatleben zu genießen oder privatwirtschaftlichen Erwerbstätigkeiten nachzugehen. Dank der als Perestroika und Glasnost bezeichneten Reform- und Öffnungspolitik der neuen sowjetischen Parteiführung unter Generalsekretär Michail Gorbatschow eröffnete sich für die Länder des Ostblocks ab Mitte der 1980er Jahre ein neuer innen-, wirtschafts- und außenpolitischer Spielraum. Die sich einerseits aus der wirtschaftlichen und sozialen Notlage, andererseits aus der freizügigeren Haltung der Sowjets ergebenden Entwicklungen, die im Gegensatz zu den Ereignissen im Herbst 1956 weitgehend friedlich verliefen, führten schließlich zu Veränderungen in revolutionärem Ausmaß.

Diese kamen nicht zuletzt durch die günstige Ausgangssituation zustande, die die vorhin bereits erwähnte milde Wirtschafts- und Machtpolitik Kádárs ab der 1970er Jahre ermöglicht hatte. Die Politik der wirtschaftlichen Öffnung schuf allmählich ein Wirtschaftsklima, das zu einer Wirtschaftsordnung beitrug, die in vielerlei Hinsicht marktwirtschaftliche Elemente aufwies. Es entstanden in großer Zahl Kleinunternehmen in der Landwirtschaft und im Dienstleistungssektor, einige staatliche Unternehmen haben die Verdienstmöglichkeiten der Arbeitnehmer durch die schrittweise Entwicklung der westlichen Wirtschaftsbeziehungen erweitert, was letztlich zur Verbesserung des allgemeinen Lebensstandards führte. Darüber hinaus bot auch das ungarische Rechtssystem, das im Vergleich zu dem der kommunistischen Länder als entwickelt galt, eine optimale Grundlage für einen geregelten Übergang.

Der Transformationsprozess – Niedergang der Ära Kadar

Das Jahr 1985 war der Beginn der letzten Phase des Niedergangs der Kádár-Ära. Zu diesem Zeitpunkt hatte Kádár die Möglichkeiten des Reformsozialismus ausgeschöpft, die prekäre wirtschaftliche (veraltete Infrastruktur, geringe Produktionseffizienz) und finanzielle (schnell wachsende Staatsverschuldung) Situation führte zu immer größeren sozialen Spannungen, die die seit einiger Zeit schon latent vorhandenen Risse innerhalb der Partei noch weiter vertieften. Kádár hörte nicht auf Stimmen, die umfassende Wirtschaftsreformen forderten und wollte die Wirtschaft innerhalb des bestehenden Systems wirtschaftlicher und politischer Institutionen neu starten. Auf dem Parteitag der MSZMP wurden diesbezügliche Resolutionen verabschiedet, aber das erhoffte Wirtschaftswachstum blieb hinter den Erwartungen zurück. Die angekündigte Wirtschaftspolitik erhöhte die Verschuldung weiter, ohne die ungarische Wirtschaft wettbewerbsfähiger zu machen und die ungünstige Handelsbilanz zu verbessern.

Nach dem Scheitern dieses Experiments sahen die wirtschaftspolitischen Führer des Systems keine Möglichkeit, das bestehende staatlich gelenkte Wirtschaftssystem aufrechtzuerhalten. Der einzige Ausweg aus der Krise bestand darin, die öffentliche wirtschaftspolitische Steuerung abzubauen. Parallel zum Abbau des sozialistischen Wirtschaftssystems begann der Zerfall des Systems der politischen Institutionen. Im Juni 1987 kam es schließlich zu großen politischen Veränderungen. Die Position des Vorsitzenden des Ministerrats (Ministerpräsidenten) wurde durch Károly Grósz übernommen, dessen Regierung nun die wirtschaftspolitische Wende in Richtung Marktwirtschaft in Angriff nehmen sollte.

Oppositionelle Bewegungen

Parallel zur Entfaltung der Krise der Kádár-Ära entstanden verschiedene illegale Oppositionsgruppen, deren Aktivitäten darauf abzielten, das System zu kritisieren. Ihre Ansichten wurden in dem von ihnen veröffentlichten Samisdat (im Selbstverlag erschienene Literatur) zum Ausdruck gebracht. Diese waren in der Regel reproduzierte Zeitschriften, die ohne Erlaubnis und Zensur der Behörden veröffentlicht wurden. Einige Oppositionsbewegungen setzten sich zum Ziel, die Diktatur aus menschenrechtlicher Sicht zu kritisieren und forderten den Schutz der grundlegenden Menschen- und Bürgerrechte.

Die 1981 unter dem Titel „Beszél?“ (Sprecher) ins Leben gerufene politische Zeitschrift befürwortete die Schaffung bürgerlich-liberaler Beziehungen. Es wurden auch Widersprüche gegen das System aufgezeigt, wobei die nationalen Aspekte stark zum Ausdruck gebracht wurden. Volksnationale Schriftsteller (unter anderem Sándor Csoóri, Gyula Fekete, Sándor Lezsák) kritisierten zunächst die Phänomene des Zerfalls der traditionellen Bauernwelt, erhoben aber auch ihre Stimmen gegen den Bevölkerungsrückgang und die Unterdrückung der ungarischen Minderheiten in den Nachbarstaaten. Viele „radikale“ Ökonomen haben in ihren Analysen die wirtschaftliche Unbeständigkeit des sozialistischen Systems aufgezeigt und die Schaffung einer Marktwirtschaft gefordert.

Das zweifellos wichtigste Ereignis der frühen Oppositionsbewegung war das „Monor-Treffen“, das am 14. und 16. Juni 1985 auf einem Campingplatz nahe der Ortschaft Monor stattfand. Neben Vertretern der isolierten demokratischen Opposition nahmen zahlreiche Reformökonomen, Historiker, Volksautoren und Künstler, die kritisch gegenüber dem Kádár-Regime waren, an der Versammlung teil. Die Beratung ist ein Meilenstein in der Geschichte der ungarischen sowie der mittel- und osteuropäischen Oppositionsbewegung nach 1956. Das damals illegale Ereignis der Oppositionskreise und -gruppierungen vor dem Regimewechsel in Ungarn war das erste und wirklich einzige Treffen der demokratischen Opposition, bei dem sowohl die „Urbanen“ als auch die „Volksfraktion“ anwesend waren und Einheit zeigten.

Im Herbst 1987 gründete der volkstümlich-nationale Flügel der sich formenden Opposition im Hof des Hauses von Sándor Lezsák in Lakitelek eine politische Bewegung, die sich MDF (Ungarisches Demokratisches Forum) nannte. 1988 wurden weitere Parteien der demokratischen Opposition wie der SZDSZ (Bund Freier Demokraten) der Fidesz (Verband Junger Demokraten) als unabhängige Jugendorganisation mit einer oberen Altersgrenze von 35 Jahren ins Leben gerufen. Noch in diesem Jahr kam es zur Neugründung der FKGP (Unabhängige Partei der Kleinlandwirte), und es entstanden zahlreiche andere Initiativen. Einige der Organisationen, die in diesen Jahren gegründet worden waren, wurden zu Parteien, als sich die Möglichkeit des Mehrparteienwettbewerbs eröffnete, andere funktionierten als Nichtregierungsorganisationen mit ökologischem oder sozialem Charakter weiter. Ab 1988 erhielten die verschiedenen Organisationen zunehmend Unterstützung aus westlichen Ländern, sowohl von Stiftungen als auch von Regierungen, die ihnen bei der Finanzierung und beim Aufbau ihrer internationalen Kontakte halfen. Dies gab diesen Gruppen auch einen größeren Einfluss gegenüber dem Regime.

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Umbruch 1989/90

Die Aktivitäten der verschiedenen Oppositionsgruppen erreichten nach und nach ein immer breiteres Publikum. Obwohl sie nie wirklich zu einer Massenbewegung wurden, konnten sie in einigen Fragen die Sympathie breiter Teile der Gesellschaft gewinnen. Dazu gehörten unter anderem die Aktion gegen das Wasserkraftwerk in Bös-Nagymaros und die Proteste gegen die minderheitenfeindliche Politik des Ceau?escu-Regimes in Rumänien.

Kádár, alters- und krankheitsbedingt arbeitsunfähig, wurde im Herbst 1988 aus der Parteiführung entfernt und durch Károly Grósz ersetzt (Kádár wurde zum Parteivorsitzenden gewählt, dies war aber nur eine symbolische Position). Die dynamischen innenpolitischen Entwicklungen stellten die neue politische Führung vor die Alternative, die Pluralisierungsprozesse entweder gewaltsam zu unterdrücken oder den Übergang zu einer demokratisch-rechtsstaatlichen politischen Ordnung zu akzeptieren. Nach monatelanger innerparteilicher Diskussion entschloss sich die Parteielite, das Mehrparteiensystem zu akzeptieren und gleichzeitig sich an die Spitze des politischen Umbruchs zu stellen bzw. ihn entscheidend zu beeinflussen.

Im November 1988 wurde Miklós Németh der neue Ministerpräsident. Er machte sich zunehmend unabhängig vom Generalsekretär der Partei und bemühte sich mit radikalen Reformen um einen friedlichen Übergang. Neue Gesetze über die Wirtschaftsgesellschaften (Einführung von kapitalistischen Unternehmensformen nach deutschem Vorbild), über die Investitionen von ausländischen Unternehmen in Ungarn, die – westlichen Maßstäben entsprechenden – Gesetze über die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit und das Gesetz über die Volksabstimmung wurden vom Parlament beschlossen.

1989 war ein entscheidendes Jahr für das Entstehen einer pluralistischen politischen Ordnung. Anfang des Jahres bezeichnete Imre Pozsgay, ein prominenter MSZMP-Politiker, in einer Rundfunkansprache die Ereignisse im Herbst 1956 als „Volksaufstand“, was eine Abkehr der Parteiführung von dem bis dahin verwendeten Begriff „Konterrevolution“ bedeutete.

Im Februar 1989 entschloss sich die Parteiführung, den „Eisernen Vorhang“ an der ungarisch-österreichischen Grenze abbauen zu lassen. Diese symbolträchtige Entscheidung signalisierte eine außenpolitische Neuorientierung des Regimes und ermöglichte im August 1989 rund 700 DDR-Bürgern, auf die österreichische Seite der Grenze zu gelangen. Sie machten sich auf den Weg, nachdem sie erfahren hatten, dass im Zuge des sogenannten Paneuropäischen Picknicks – einer Friedensdemonstration ungarischer Oppositioneller – für drei Stunden ein symbolischer Grenzübergang bei Sopronköhida (Steinambrückl) errichtet wurde.

Im Frühjahr 1989 schlossen sich die wichtigsten Oppositionsorganisationen und -parteien am Runden Tisch der Opposition (EKA) zusammen, um ihre Positionen gegenüber dem Regime zu koordinieren und gemeinsam zu vertreten. Der EKA führte ab Juni über den um die Vertreter der Regierung und der Parteiführung ergänzten sogenannten Nationalen Runden Tisch institutionalisierte Gespräche mit der MSZMP. Die Einigkeit der Oppositionsparteien gegen das Regime wurde in den meisten Fragen aufrechterhalten, und in einer Reihe von Fragen wurde die Parteielite schließlich gezwungen, eine Einigung zu erzielen. Im Laufe dieser Verhandlungen wurden die Grundlagen der neuen politischen Institutionen ausgearbeitet. Obwohl die Einheit der Oppositionsparteien schließlich an einigen Fragen des politischen Übergangs (wie zum Beispiel der Wahl des Staatspräsidenten) zerbrach, hatte der EKA bis Mitte September 1989 ein Abkommen mit der MSZMP unterzeichnet, das zu einer grundlegenden Transformation des Systems führen sollte. Dieses wurde dann vom Parlament gemäß dem Beschluss der MSZMP verabschiedet; da das Parlament nicht unter demokratischen Verhältnissen gewählt worden war, stellte es im Machtgefüge des Parteienstaates allerdings ein gewichtsloses Gremium dar und besaß daher keine Legitimität. Die Verfassungsänderung und die neuen Gesetze wurden also vom Parlament beschlossen, aber die eigentliche Entscheidungsfindung und politische Beratung fand nicht in diesem Gremium, sondern am Nationalen Runden Tisch statt.

Entstehung der neuen Republik und erste demokratische Wahlen

Die neue Republik wurde offiziell am 23. Oktober 1989 geboren. Die ersten freien Wahlen wurden im Frühjahr 1990 abgehalten, die das rechtsnationale MDF gewann, während der SZDSZ den zweiten Platz belegte. Die MSZP (Ungarische Sozialistische Partei), die sich im Herbst 1989 von der ehemaligen Staatspartei abgespalten hatte und sich als sozialdemokratische Kraft definierte, erhielt knapp über 10 Prozent der Stimmen.

Da die MDF keine Mehrheit der Sitze im Parlament erlangte, mussten die beiden anderen konservativen Parteien in die Regierung einbezogen werden, um eine stabile Regierung zu gewährleisten. Nach den Wahlen wurde eine Koalitionsregierung mit der Beteiligung des MDF der FKGP und der Christlich Demokratischen Volkspartei KDNP unter der Führung von József Antall gebildet.

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Ungarn heute

Jeden Herbst jährt sich nicht nur die Wende 1989, die im Sommer in Ungarn ihren Anfang nahm, sondern auch der antistalinistische Volksaufstand von 1956.

Demonstrationen für Freiheit und Demokratie sind im Land auch heute noch präsent. Gibt doch die Politik des ungarischen Premier Viktor Orban immer wieder Anlass, die Durchsetzung freiheitlich-demokratischer Prinzipien und die Einhaltung der Menschenrechte einzufordern.


Ausführliche Informationen über die derzeitige Situation von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie über die aktuelle Politik in Ungarn.

Autor: Peter Koch. Aufbereitung und Aktualisierung für das Internet: LpB BW.

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