EU-Erweiterung Westbalkan

Die Länder des Westlichen Balkan befinden sich seit Jahren in einer Warteschleife zum EU-Beitritt. Im Zuge des EU-Beitrittsverfahrens müssen die Länder mehrere Phasen durchlaufen und die sogenannten "Kopenhagener Kriterien" erfüllen.

Erweiterungspläne auf dem Westbalkan

Die Länder des Westlichen Balkan haben auf ihrem Weg in Richtung EU unterschiedliche Stadien im Beitrittsprozess erreicht. Von den Nachfolgestaaten Jugoslawiens haben Slowenien und Kroatien bereits 2004 und 2013 den Sprung in die EU geschafft. Was die verbliebenen Länder des Westlichen Balkan anbelangt, sind Serbien und Montenegro im Betrittsprozess schon am weitesten fortgeschritten, die Verhandlungen geraten jedoch seit einigen Jahren ins Stocken. Nordmazedonien und Albanien warten auf den bereits zugesagten Start ihrer Beitrittsverhandlungen, der mehrmals von anderen EU-Mitgliedstaaten blockiert wurde. Bosnien-Herzegowina und Kosovo sind bislang lediglich potenzielle Beitrittskandidaten, zu instabil die politischen Verhältnisse im Land insgesamt. 

Auf mehreren EU-Westbalkan-Gipfeln wurde in den vergangenen Jahren um die Beitrittsperspektiven gerungen, 2018 wurde zunächst noch das Jahr 2025 genannt, zu dem erste weitere Länder der EU beitreten könnten. Für den EU-Westbalkan-Gipfel im Oktober 2021 erhoffte sich Sloweniens Ministerpräsident Janez Jansa, Gastgeber des diesjährigen Gipfels. das Jahr 2030 als Zeitpunkt künftiger Beitritte in Aussicht stellen zu können. Auf einen konkreten Zeitplan konnte man sich jedoch auf dem Gipfel nicht einigen  Es blieb bei einer Bekräftigung, die Erweiterung mit den Westbalkanländern anzustreben und allgemeinen Beschwörungen, nach dem Motto: Der Westbalkan gehört im Prinzip zur Familie, aber wir brauchen mehr Zeit. Geoplitische Interessen wogen schwerer als die Skepsis: "Entweder streckt Europa seine Hand aus oder andere werden es tun", so brachte es der lettische Premier Krisjanis Karins brachte auf den Punkt: Gemeint sind  China, Russland oder der Türkei, die sich bemühen, in den Westbalkanländern an Einfluß zu gewinnen.

Die seit Jahren eher zurückhaltende Linie der EU begründet sich mit den schlechten Erfahrungen aus vergangenen Erweiterungsrunden, den zunehmeden Verstößen gegen Prinzipen der Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, sowohl in Ländern, die bereits der EU angehören wie Polen und Ungarn als auch in den Beitrittsländern, sowie der Aufnahmefähigkeit der EU an sich, die sich zuvor reformieren müsse, um bereit zu sein für weitere Integrationsschritte.

Vor den eigentlichen Beitrittsprozess hat die EU den Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess geschaltet. Vor der Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen müssen die beitrittswilligen Länder diesen mehrstufigen Heranführungsprozess erfolgreich durchlaufen.

In Folge des russischen Angriffskrieges in der Ukraine haben auch weitere Länder jenseits des Westbalkan ihren Wunsch nach einem EU-Beitritt geäußert. Die Ukraine hat Anfang März 2022 die Mitgliedschaft in der EU offiziell beantragt, kurz darauf haben Georgien und Moldau ebenfalls ein EU-Beitrittsgesuch eingereicht. Auch in die Beitrittsverhandlungen mit Niordmazedonien und Albanien kam im Juli 2022 Bewegung, mit beiden Ländern wurden die Verhandlungen eröffnet. Auf dem EU-Gipfel im Dezember 2023 haben die EU-Staaten den Beginn der Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine beschlossen, Georgien bekam den Kandidatenstatus zugesprochen.

Auf dem Westbalkangipfel im November 2022 bekrätigte Scholz, dass die Staaten des Westbalkan so schnell wie möglich der EU beitreten sollen. Die Integration der Westbalkanstaaten in die EU sei dringlich für die Sicherheit Europas, gerade auch, da Russland und China zunehmend ihren Einfluss in der Region geltend machen wollen. Auf dem Gipfel unterzeichneten die Staaten ferner drei Abkommen, die helfen sollen, einen regionalen Markt zu schaffen. Sie verpflichten sich darin unter anderem, ihre Personalausweise sowie ihre Hochschul- und Berufsabschlüsse gegenseitig anzuerkennen. Scholz bezeichnete das Abkommen als Durchbruch, hatten sich Serbien und das Kosovo doch lange dagegen gesträubt. Serbien erkennt Kosovo nicht als Staat an und wollte ursprünglich, dass die Vereinbarungen nicht für die bilateralen Beziehungen mit Pristina gelten.

Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess (SAP)

Der „Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess (SAP)“  beruht auf bilateralen Vertragsbeziehungen, finanzieller Unterstützung, politischem Dialog, Handelsbeziehungen und regionaler Zusammenarbeit. Er soll für eine Stabilisierung der Region des westlichen Balkan sorgen und eine Freihandelszone mit Blick auf die Länder der EU schaffen, welche künftig die EU-Mitgliedschaft anstreben. Aus diesem Grund wird der SAP auch als Vorstufe des eigentlichen EU-Beitritts bezeichnet.

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Die Beitrittskandidaten

Montenegro, welches am 12. Juni 2006 von der EU offiziell als Staat anerkannt wurde, ist seit Dezember 2010 EU-Beitrittskandidat. Am 29. Juni 2012 hat der Europäische Rat den Beschluss des Rates über die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen gebilligt. Seit 2012 fanden bislang  vierzehn Tagungen der Beitrittskonferenz auf Ministerebene mit Montenegro statt. Mittlerweile sind alle der 35 Verhandlungskapitel eröffnet. Eine ausführlichere Darstellung über die Entwicklung und den aktuellen Stand der Beitrittsverhandlungen finden Sie hier.

Serbien stellte am 22. Dezember 2009 den offiziellen Antrag auf Mitgliedschaft in der EU. Vorangegangen war 2008 die seitens der EU bereits 2005 zu einer Verhandlungsbedingung gemachte Auslieferung von mutmaßlichen Kriegsverbrechern an das internationale Tribunal in Den Haag. Serbien hat erst seit März 2012 den Status eines Beitrittskandidaten, bereits im Juni 2013 beschloss ein EU-Gipfel die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Serbien ab Januar 2014. Seitdem fanden in Brüssel dreizehn Tagungen der Beitrittskonferenz auf Ministerebene statt und insgesamt 18 der 35 Kapitel sind eröffnet. Eine ausführlichere Darstellung über die Entwicklung und den aktuellen Stand der Beitrittsverhandlungen finden Sie hier.

Nordmazedonien hat von der Europäischen Kommission bereits 2005 den Status eines Beitrittslandes verliehen bekommen. Die Kommission hat erstmals im Oktober 2009 empfohlen, Beitrittsverhandlungen mit der Republik Nordmazedonien aufzunehmen. Der Beginn der Beitrittsverhandlungen wurde von den  Fortschritten bei der Durchführung der dringenden Reformen abhängig gemacht. Eine politische Einigung über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien wurde schließlich im März 2020 erzielt. Aufgrund von eingelegten Vetos verzögerte sich der Beginn der Verhandlungen. Im Juli 2022 wurden die Beitrittsverhandlungen eröffnet. Eine ausführlichere Darstellung über die Entwicklung und den aktuellen Stand der Beitrittsverhandlungen finden Sie hier.

Albanien hatte seinen Beitrittsantrag am 24. April 2009 eingereicht. Am 9. November 2010 ist die Kommission zu der Bewertung gelangt, dass Albanien erst die Beitrittskriterien in erforderlichem Maße erfüllen muss, bevor die Beitrittsverhandlungen eröffnet werden können. Im Oktober 2012 hat die Europäische Kommission empfohlen, Albanien den Status eines Bewerberlandes zuzuerkennen, sofern es die Maßnahmen in bestimmten Bereichen abgeschlossen hat. Seit dem 24. Juni 2014 ist Albanien offizieller Beitrittskandidat. Eine politische Einigung über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Albanien wurde schließlich im März 2020 erzielt. Aufgrund von eingelegten Vetos verzögerte sich der Beginn der Verhandlungen. Im Juli 2022 wurden die Beitrittsverhandlungen eröffnet. Eine ausführlichere Darstellung über die Entwicklung und den aktuellen Stand der Beitrittsverhandlungen finden Sie hier.

Bosnien und Herzegowina
Bosnien und Herzegowina hat seinen Antrag auf Beitritt zur EU am 15. Februar 2016 gestellt. Muslimische, kroatische und serbische Politiker im Land begegnen sich nach wie vor unversöhnlich. Die jährlichen Fortschrittsberichte der Europäischen Kommission stellen dem Land ein eher kritisches Reformzeugnis aus und fordern die Schaffung eines funktionierenden Staatswesens, die Angleichung der Verfassung an die Europäische Menschenrechtskonvention und die Übernahme und Umsetzung von EU-Rechtsvorschriften. Nichts desto trotz hat die EU gewisse Refomfortschrittean erkannt und dem Land im Dezember 2022 offiziell den Status eines Beitrittskandidaten verliehen. Eine ausführlichere Darstellung über die Entwicklung und den aktuellen Stand im Beitrittsprozess finden Sie hier.

Kosovo
Kosovo hat am 17. Februar 2008 seine Unabhängigkeit erklärt, was von zahlreichen Staaten, darunter auch die EU-Mitgliedsstaaten Griechenland, Rumänien, Slowakei, Spanien und Zypern, bis heute nicht anerkannt wird. Offiziell wird der Kosovo dennoch von der EU zu den „potenziellen Kandidatenländern" gezählt. Einen offiziellen Antrag auf Beitritt zur EU hat das Land im Dezember 2022 eingereicht. Eine ausführlichere Darstellung über den aktuellen Stand finden Sie hier.

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PRO & CONTRA Westbalkanerweiterung

PRO-Argumente

Aussicht auf Mitgliedschaft ist treibender Reformanreiz
Die Aussicht auf eine EU-Mitgliedschaft sei für den Westbalkan noch immer treibender Reformanreiz, so Europaexpertin Dr. Natasha Wunsch. Liberalen Kräften in den aktuellen Beitrittskandidaten – NGOs, einzelnen Oppositionsparteien, aber auch vielen einfachen Bürgern – diene die Beitrittsperspektive als Referenzpunkt und Antrieb für ihre Mobilisierung.

Vermeidung von künftigen Krisen auf dem Westbalkan
Auch die EU selbst habe ein Interesse daran, den Beitrittsprozess mit den Westbalkanstaaten am Leben zu halten. Ohne Beitrittsperspektive könnte der Westbalkan wieder verstärkt zum Krisenherd werden. Würde der EU-Beitrittsprozess gestoppt, erhöhe sich die Gefahr für Populismus, Instabilität und geopolitischer Unsicherheit auf dem Balkan.

Handlungsfähigkeit und Zukunftsträchtigkeit der EU demonstrieren
Die Aussicht, durch eine gelungene Transformation des Westbalkans Handlungsfähigkeit wie auch anhaltende Attraktivität für Drittländer zu demonstrieren ist ferner ein gewichtiges Argument. Eine weitere Beitrittsrunde würde die Zukunftsträchtigkeit des europäischen Projekts unterstreichen.

Verantwortung der EU endet nicht an ihren Grenzen
Sowohl in Bezug auf jene Staaten, die einen EU-Beitritt anstreben als auch auf jene, die im Zuge der Nachbarschaftspolitik eine Annäherungspolitik betreiben, stehe die EU in der Verantwortung, so eine Analyse der Friedrich-Ebert-Stiftung mit dem Titel „Unsere Verantwortung endet nicht an den Grenzen der EU".  Aufgabe der EU sei es, sowohl innerhalb als auch außerhalb ihrer Grenzen Prosperität, Stabilität  sowie Frieden und Sicherheit zu befördern. Dabei geht es für die EU und ihre Mitgliedstaaten um die Verhinderung von Krieg, Gewalt und deren Nebenfolgen  (z. B. unkontrollierte Migration), die Verbreitung des eigenen Wertekonzeptes  (Achtung der Menschenrechte, freiheitlich-demokratische  Grundordnung,  Rechtsstaatlichkeit, Marktwirtschaft)  sowie den Zugang zu Absatzmärkten und Ressourcen  (Rohstoffe, Energie, qualifizierte Arbeitskräfte).

Andere Großmächte würden ihren Einfluss auf dem Westbalkan verstärken
Würde die EU in ihren Anstrengungen nachlassen, die Länder des westlichen Balkan an sich zu binden, würden andere geostrategische Akteure wie Russland und China ihren Einfluss auf dem Balkan verstärken. Sie wären dann nicht mehr nur Beobachter in der Region, sondern würden ihrerseits investieren und somit mehr Einfluss nehmen.

Wirtschaftlicher Nutzen für die Länder und die EU
Eine Erweiterung bringe insgesamt betrachtet letztendlich mehr Nutzen als Kosten und ein prinzipieller Erweiterungsstopp käme Europa teuer zu stehen, heißt es weiter in der FES-Analyse. So hätten vom Beitritt der mittelosteuropäischen Länder 2004 nicht nur sie selbst, sondern auch die EU deutlich profitiert, politisch wie auch wirtschaftlich. Die Ausfuhren der EU in die beitretenden Staaten hätten erheblich zugenommen.

Fairness und Glaubwürdigkeit angesichts der gegebenen Zusage
Möchte die EU ihre Glaubwürdigkeit nicht verlieren, sollte sie an ihrer EU-Perspektive für den Westbalkan und der konkreten Zusage aus dem Jahr 2003 festhalten. Auf dem EU-Gipfeltreffen in Thessaloniki im Jahr 2003 wurde folgende Erklärung abgegeben: „Die EU bekräftigt, dass sie die europäische Ausrichtung der westlichen Balkanstaaten vorbehaltlos unterstützt. Die Zukunft der Balkanstaaten liegt in der Europäischen Union.". In einer Mitteilung vom Februar 2018 hat sie diese Aussage nochmals unterstrichen.

CONTRA-Argumente

Schlechte Erfahrungen mit den letzten Erweiterungsrunden
Mit der Erweiterungsrunde 2007 sei die Erfolgsgeschichte der EU-Erweiterung an ihr Ende gekommen. Weitere Erweiterungsrunden seien aktuell keine gute Idee., so EURACTIV Redakteur Zeljko Trkanjec. Bereits während der Beitrittsprozesse hätten Bulgarien und Rumänien Probleme aufgewiesen. Und auch heute noch liegen die politischen Standards der beiden Länder noch immer unter den EU-Vorgaben. Außerdem würden sie schon vom ersten Tag ihrer Mitgliedschaft an als Mitglieder zweiter Klasse angesehen und ebenso behandelt.

Dazu auch Judy Dempsey von Carnegie Europe: „Die illiberale Bewegung in Polen und Ungarn sowie die Korruption in Bulgarien, Kroatien, Rumänien und der Slowakei können leicht als Ausrede für weitere EU-Erweiterungen dienen.“

Keine wesentlichen Fortschritte bei den Beitrittskandidaten erkennbar
Die Fortschritte der westlichen Balkanstaaten sind in den letzten Jahren nicht in dem Maße erfolgt, wie es für einen künftigen EU-Beitritt erforderlich wäre. Die Verhandlungen mit den Ländern sind oft festgefahren oder wurden gar nicht erst aufgenommen.

EU muss sich zuerst selbst reformieren
Kritiker bringen weiterhin ein, dass die EU selbst sich zuvor reformieren müsse. Für eine weitere Beitrittsrunde brauche es eine reformierte EU, die auch in der Lage sei, neue Mitglieder aufzunehmen. Und es brauche neue Mitglieder, die keine neuen Probleme einbringen, sondern die die Union nach vorne bringen.

EU-Beitrittsprozess muss zuerst neu geregelt werden
Der französische Präsident Emmanuel Macron vertritt seit einigen Jahren eine ähnliche Position. Die EU sei in ihrem gegenwärtigen Zustand nicht in der Lage, auch nur ein einziges neues Mitglied aufzunehmen, weil es sie schwächen würde. In dem Reform-Papier von Macron sprach er sich 2018 zwar für eine grundsätzliche Fortsetzung der Beitrittspolitik aus, die aber nach vier Prinzipien zuerst neu geregelt werden müsse: graduelle Assoziierung, stringentere Konditionen, Anreize durch konkretere Vorteile im Verlauf des Prozesses und die Option zu sanktionierenden Schritten.

 

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Perspektiven - Westbalkan-Strategie der EU

Auf dem EU-Gipfeltreffen in Thessaloniki im Jahr 2003 hat die EU den Staaten des Westlichen Balkan eine konkrete Perspektive eröffnet. In einer Erklärung hieß es: „Die EU bekräftigt, dass sie die europäische Ausrichtung der westlichen Balkanstaaten vorbehaltlos unterstützt. Die Zukunft der Balkanstaaten liegt in der Europäischen Union."

Zehn Jahre später zeigte sich die EU-Kommission zwischenzeitlich verhaltener. Kommissionschef Jean-Claude Juncker hatte in seinen politischen Leitlinien 2014 verkündet, dass es vorerst keine weiteren Erweiterungen mehr geben würde: "Die EU muss bei der Erweiterung eine Pause einlegen, damit wir konsolidieren können, was die 28 Mitgliedstaaten erreicht haben."

2018 nahm die Bereitschaft, eine zukünftige Erweiterungsrunde anzugehen, wieder fahrt auf. Mit der Westbalkan-Strategie 2018 signalisierte die Europäische Kommission, die Staaten des westlichen Balkans rascher und energischer in die Europäische Union führen zu wollen: „Strategie für eine glaubwürdige Erweiterungsperspektive für und verstärktes Engagement der EU gegenüber dem westlichen Balkan“. In dieser Strategie sind die Prioritäten und Bereiche für eine verstärkte Zusammenarbeit festgelegt, damit die besonderen und wichtigen Herausforderungen, vor denen der westliche Balkan steht, bewältigt werden können. Insbesondere sind grundlegende Reformen und gutnachbarliche Beziehungen erforderlich. Eine glaubwürdige Erweiterungsperspektive erfordert nachhaltige Anstrengungen und unumkehrbare Reformen.

In einer Mitteilung der Europäische Kommission vom Februar 2020 über die  „Stärkung des Beitrittsprozesses – Eine glaubwürdige EU-Perspektive für den westlichen Balkan“ ergingen konkrete Vorschläge zur Stärkung des Beitrittsprozesses. Der Prozess müsse berechenbarer, glaubwürdiger und dynamischer gestaltet und einer stärkeren politischen Steuerung unterworfen werden. Auf dem EU-Westbalkan-Gipfel 2020 hat sich die EU mit den Westbalkanstaaten über den aktuellen Stand ihrer Beitrittsperspektiven beraten. Und auch in der Covid-19-Pandemie greift die EU den westlichen Balkanstaaten mit einem Finanzpaket  finanziell unter die Arme.

Das Europäische Parlament hat im September 2021 zudem das neue Instrument für Heranführungshilfe für den Zeitraum 2021-2027 beschlossen. Die EU möchte damit weitere Gelder für Kandidatenländer und potenzielle Kandidaten zur Unterstützung wichtiger politischer, institutioneller, sozialer und wirtschaftlicher Reformen bereitstellen. Profitieren werden von diesen Hilfen die Länder  Albanien, Bosnien und Herzegowina, das Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien, Serbien und die Türkei. „Damit haben wir gemeinsam ein Instrument mit großem Potenzial geschaffen und ein starkes Signal für die Entschlossenheit der Europäischen Union gesendet, die Erweiterungsregion zu unterstützen", so Olivér Várhelyi‚EU-Kommissar für Nachbarschaft und Erweiterung.

Auf dem EU-Westbalkan-Gipfel 2021 am 6. Oktober in Slowenien werden die Führungsspitzen der EU-Mitgliedstaaten und der sechs Partnerländer im Westbalkan sich weiter über die Perspektive für den Westbalkan und eine zukünftig intensivere Zusammenarbeit austauschen. So soll auf dem Gipfel erstmals schriftlich festgehalten werden, dass sich die Europäische Union weiter zu dem begonnenen Erweiterungsprozess bekennt.

Da die Perspektive abermals wenig konkret ausfällt, versucht die EU  die Westbalkanländer zumindest mit weiteren finanziellen Hilfen unter die Arme zu greifen. Insgesamt 30 Milliarden Euro - davon neun Milliarden als direkte Hilfen, der Rest über Bürgschaften - will die EU in den kommenden Jahren investieren. Das Geld soll in Infrastrukturmaßnahmen fließen, etwa den Bau der „Friedensautobahn" zwischen dem serbischen Nis und der kosovarischen Hauptstadt Pristina. Außerdem soll es die Länder dabei unterstützen, die Wirtschaft klimaneutral umzubauen.

Hürden im Erweiterungsprozess

Eine zügige Erweiterung der Europäischen Union um die aktuellen Beitrittskandidaten des Westbalkan ist jedenfalls nicht zu erwarten. Zum einen hemmen die teils schlechten Erfahrungen mit den Ost-Erweiterungen die Bereitschaft der EU sich zeitnah auf die Aufnahme weiterer Staaten einzulassen. Des weiteren laste der Region des westlichen Balkan noch immer der Topos der „Balkanisierung" an:  "Die Vorstellung vom ewigen Pulverfass Balkan und der Unfähigkeit zu Demokratie, Menschenrechten und ökonomischer Entwicklung, ist bis heute die latente Denkfolie, vor der der (West-)Balkan wahrgenommen wird", so die Meinung von Julian Brommer für das Magazin Zeitgeist. Insbesondere die fortwährenden Spannungen zwischen Serbien und dem Kosovo stützen dieses Bild wie auch die jüngste Auseinandersetzung um die Anerkennung von Autokennzeichen zeigte.

Da die politischen Standards einiger Mitgliedstaaten bis heute noch immer unter den eigentlichen EU-Vorgaben liegen, möchte die Europäische Kommission ferner  bei den aktuellen Beitrittskandidaten die Reformen oder auch Rückschritte genauer überprüfen. Die Zunahme an Rechtsstaatlichkeitsverletzungen der letzten Jahre veranlasste die EU Ende 2020 einen neuen, verschärften Rechtsstaatsmechanismus auf den Weg zu bringen, der Vertragsverletzungen der Mitgliedstaaten schlagkräftiger ahnden soll. Und auch auf dem Weg in die EU stehen die beitrittswilligen Kandidaten fortan stärker unter Beobachtung. In jährlichen Fortschrittsberichten über die Beitragskandidaten geben die EU-Kommissionsdienststellen einen Bericht und eine Beurteilung über alle im Laufe der jeweils letzten 12 Monate erzielten Fortschritte für jeden der Kandidaten. Grobe Verletzungen der Menschenrechte, Korruption sowie schleppende Reformen verzögern einen EU-Beitritt oder legen ihn ganz auf Eis.

Die Erweiterungsprozesse bremsend kommt erschwerend  hinzu, dass sich die EU zuerst selbst reformieren müsse, um zukünftigen Erweiterungen gewappnet zu sein, die Aufnahmekapazität sei begrenzt. Die Fähigkeit zur Integration neuer Mitglieder in die EU setze auch eine Weiterentwicklung der Union selbst voraus. Insbesondere Frankreichs Präsident Macron sprach sich bereits 2019 für eine Reform der EU-Erweiterungspolitik aus und legte ein entsprechendes Papier vor.

Möglicher Zeithorizont

Im Jahr 2018 wurde noch das Jahr  2025 wurde als möglicher Zeithorizont für die ersten Beitrittskandidaten ins Spiel gebracht, zu dem sie frühestens der EU beitreten könnten. Den Beitrittskandidaten Montenegro und Serbien wurde diese Perspektive in Aussicht gestellt. Doch schon damals hat der zuständige Kommissar Johannes Hahn deutlich gemacht,: Es gibt keinen Automatismus. Auch Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker erklärte, 2025 sei keine Garantie für diese Länder auf Mitgliedschaft. Organisierte Kriminalität und Korruption sowie bilaterale Konflikte müssten bis dahin beendet werden. Die EU mache keine Konzessionen bei den Beitrittskriterien, so Juncker.

Für den EU-Westbalkan-Gipfel im Oktober 2021 erhoffte sich Sloweniens Ministerpräsident Janez Jansa, Gastgeber des diesjährigen Gipfels. das Jahr 2030 als Zeitpunkt künftiger Beitritte verankern zu können. In Vorbereitung auf das Treffen wurde diese Jahreszahl jedoch aus der Erklärung gestrichen. Eine Bekräftigung, die Erweiterung mit den Westbalkanländern anzustreben wird wohl Minimalkonsens bleiben.

 

Da die Perspektive einer EU-Mitgliedschaft aus Sicht der Westbalkan-Staaten in den vergangenen Jahren in weitere Ferne rückte, haben sich die sechs Länder der Region im Frühjahr 2021 zum „Investitionsforum Westbalkan 6“ zusammengeschlossen. Während also die Perspektive EU verblasst, arbeiten die Staaten auf dem Balkan an Alternativen. Der freie Verkehr von Gütern, Kapital, Dienstleistungen und Arbeitskräften könnte mit dem Investitionsforum, einer Kooperation der Industrie- und Handelskammern der Region, auch ohne EU Wirklichkeit werden. Es gibt jedoch Zweifel, dass die Initiative „den großen Sprung nach vorne bringt". Es werde nicht genug produziert, was man gegenseitig austauschen könnte, so Südosteuropaexperte Dusan Reljic.

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Zukunft des Westbalkan – Debatte um neue Grenzziehungen

Drei Jahrzehnte nach dem Zerfall des Vielvölkerstaates Jugoslawien ist seit Frühjahr 2021 ein Non-Paper mit dem Titel „Westbalkan – ein Weg nach vorn“ im Umlauf. Das inoffizielle und unsignierte diplomatische Diskussionspapier schlägt vor, den Westbalkan neu zu ordnen. Die gesamte Nachkriegsordnung in Südosteuropa soll demnach aufgehoben und nach ethnischen Prinzipien neu strukturiert werden.

Im Papier ist die Rede von „Lösungen", nach denen die Bildung „ethnisch reiner" Nationalstaaten die Krisen auf dem Westbalkan entschärfen und beenden soll. Die Neuordnung würde das „Chaos" mit Minderheitenrechten, Institutionen und demokratischen Abstimmungsprozessen überflüssig machen. Das Konzept der Nachkriegsordnung sieht hingegen die Unantastbarkeit der vorherrschenden Grenzen in der Region vor. Jedes einzelne Land soll darin demokratische Strukturen ausbilden, in denen auch ethnische Minderheiten Platz haben.

Was sieht das Non-Paper konkret vor?

Das Papier schlägt vor, auf dem Westbalkan drei neue Großstaaten zu schaffen: Die „Vereinigung von Kosovo und Albanien" zu Groß-Albanien sowie die „Vereinigung des größeren Teils der Republika Srpska mit Serbien" zu Groß-Serbien. Mit dem größeren Teil der Republik Srpska ist der serbisch dominierte Teil Bosnien-Herzegowinas gemeint. Ferner könne „die kroatische nationale Frage gelöst werden” indem ein Groß-Kroatien geschaffen werde. Entweder sollen dabei „die vorwiegend kroatischen Kantone in Bosnien-Herzegowina mit Kroatien vereinigt” werden oder aber soll  „dem kroatischen Teil” des Landes ein „Sonderstatus” verliehen werden. Die bosnischen Muslime, die sich seit 1993 „Bosniaken” nennen, sollen laut dem Plan „einen unabhängig funktionierenden Staat” bekommen und „die volle Verantwortung für ihn” übernehmen. Sie sollten sich dann in einem Referendum entscheiden, ob die Zukunft in der EU oder eher in einer Hinwendung zur Türkei liege.

Von wem stammt das Papier?

Das Papier soll angeblich vom slowenischen Ministerpräsidenten Janez Jansa oder Personen aus seinem engsten Umfeld verfasst worden sein. Slowenien übernimmt am 1. Juli 2021 die EU-Ratspräsidentschaft. Im Vorfeld ist es EU-Brauch, in Brüssel schon einmal grob seine Leitlinien für die kommende Ratspräsidentschaft zu definieren. Premier Jansa definierte das Thema Balkan als einen Schwerpunkt. In dem Zuge soll das Papier Ratspräsident Charles Michel sowie einigen europäischen Regierungschefs übermittelt worden sein.

Jansa hat bereits bestritten, das Dokument verfasst zu haben. Die Existenz des Dokuments streitet er jedoch nicht ausdrücklich ab. Sein Büro teilte auf EURACTIV-Anfrage mit, man werde die Angelegenheit „nicht weiter kommentieren“. Und das Büro von EU-Ratspräsident Charles Michel wollte nicht ausdrücklich dementieren, das Non-Paper erhalten zu haben.

Ein Teil des Textes soll laut der slowenischen Investigativplattform Necenzurirano (sie veröffentlichte das Papier Mitte April 2021) zudem in Budapest geschrieben worden sein. Jansa ist sowohl politisch-ideologisch als auch wirtschaftlich eng mit Viktor Orbán, dem Premier von Ungarn, verbunden. In den Medien wird ferner darüber spekuliert, dass jenseits von Orbán auch die Regierung Serbiens ein Interesse an der Verbreitung des Non-Papers haben könnte.

Reaktionen

Die Inhalte des Papiers zogen Kreise und sorgten sowohl in der Region als auch international für Aufregung. Balkanexperten sind in Sorge und fürchten eine Wiederkehr der militärischen Konflikte aus den 1990er Jahren, sollten diese Ideen weiterverfolgt werden.

Das slowenische Außenministerium gibt an, keine Ahnung von der Existenz des Non-Papers zu haben, das angeblich von Janša stammen soll. Außenminister Anze Logar meinte, dass sich die Strategie Sloweniens gegenüber dem westlichen Balkan nicht geändert habe. Die bosnische Außenministerin Bisera Turkovic spricht von  „bösartiger Propaganda" und meint: „Ich bin überzeugt, dass keine ernsthafte Person innerhalb der EU für die Idee sein kann, die Integrität eines Landes zu bedrohen, selbst wenn rückständige Kräfte in Bosnien-Herzegowina versuchen, die Idee der Teilung als legitim darzustellen”.

Insbesondere in Bosnien und Herzegowina reagierte man heftig auf das slowenische Papier. Zeljko Komsic, Mitglied des bosnischen Staatspräsidiums, kritisierte den mit dem Papier propagierten völkischen Nationalismus scharf: „Dieses Papier, diese Politik, alles, was diese Ideen hervorbringt, ist heute in einigen europäischen Ländern leider an der Macht und tief im Inneren durch Muslimenfeindlichkeit und Antisemitismus motiviert.”

Auch Nordmazedoniens stellvertretender Premierminister Nikola Dimitro meldete sich zu Wort, dessen Land von den vorgeschlagenen Grenzänderungen ebenfalls betroffen wäre. Er nannte das vorgeschlagene Konzept „gefährlich“: „Die einzig richtige strategische Antwort auf diese Debatten wäre es, die europäische Integration der Region zu stärken und sichtbar voranzubringen. Wir dürfen uns nicht darauf konzentrieren, größere Staaten zu schaffen, sondern darauf, große europäische Demokratien und große Volkswirtschaften in der Region zu schaffen. Das gefühlte Verblassen der EU-Perspektive des Balkans in den vergangenen Jahren könnte tatsächlich etwas mit der aktuellen Wiedergeburt dieser gegenläufigen Vision zu tun haben“, so Dimitro.

Auch Deutschlands  Bundesaußenminister Heiko Maas lehnte bei einem Besuch im Kosovo den Gedanken vehement ab: „Die Vorstellung, man könnte komplexe soziale und politische Fragen mit neuen Strichen auf der Landkarte lösen, halten wir nicht nur für unrealistisch, sondern auch für brandgefährlich.“ Er sei deshalb froh, „dass der jüngste Vorstoß in diese Richtung – von wem auch immer er kommen mag – schnell wieder in die Schublade und hoffentlich auch endgültig in den historischen Reißwolf verfügt wurde“.

Kaum je hat ein inoffizielles Dokument bezüglich der Westbalkan-Region derart hohe Wellen geschlagen. Die G7-Außenminister verurteilten Anfang Mai in einer Resolution sämtliche „Spekulationen über ethnische Grenzziehungen". Europäische Diplomaten äußerten sich mit deutlichen Bekenntnissen zum Status quo auf dem Westbalkan. Der Westbalkan-Experte Dusan Reljic von der Stiftung Wissenschaft und Politik erklärt die Aufregung mit einer zunehmenden allgemeinen Atmosphäre der Nervosität in Südosteuropa. "Das liegt daran, dass sich die Verhältnisse in der Region seit Jahren verschlechtern, von der Qualität der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit bis hin zu den sozialen Lebensverhältnissen. Die Region erlebt einen Prozess des Rückfalls und der politischen Verwerfungen", so Experte Reljic gegenüber dem SPIEGEL. Auch Jahre nach dem Ende der Kriege in der Region konnte sich das Konzept einer demokratischen Bürgergesellschaft in den Westbalkan-Staaten nicht durchsetzen. Und wirtschaftlich gesehen ist die Region das Armenhaus Europas. Hinzu kam das Desinteresse der EU an der Region, die nach den zunächst geäußerten Beitrittsperspektiven in den Folgejahren ihr Engagement im Hinblick auf eine wirkliche EU-Integration drosselte.

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