Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Belarus


Zur Lage von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in RusslandPolen, Ungarn, Bulgarien und Rumänien haben wir jeweils eine gesonderte Analyse erstellt.


Seit 1994 ist Alexander Lukaschenko Präsident der Republik Belarus. Unter seiner Regierung durchlief das Land eine umfassende Transformation. Das System Lukaschenko gilt heute als eine Autokratie mit teils deutlichen Einschränkungen freiheitlich-demokratischer Grundrechte.

Das harte Vorgehen gegen  Oppositionelle zeigt, wie weit sich Lukaschenko von freiheitlich-demokratischen Systemen entfernt hat. Die EU versucht, mit Sanktionsmaßnahmen Lukaschenko Einhalt zu gebieten. Lukaschenko reagiert darauf seinerseits mit Gegenmaßnahmen. Weitere Informationen zum Umgang mit Opposition und Minderheiten im Land.

„Zurzeit herrscht keine Rechtsstaatlichkeit. Das Einzige was gilt, sind die Interessen von Lukaschenko und seinen Anhängern. Die Gesetze richten sich nur gegen die Gegner des Systems”, so Andrei Astapovich, ein ehemaliger Ermittler der belarussischen Miliz. Er hat die Gewalt staatlicher Sicherheitskräfte in Belarus in einem Rapport aufgeschrieben und in den sozialen Netzwerken veröffentlicht. Die Verbrechen des Lukaschenko-Regimes müssten dokumentiert werden, um irgendwann die Täter zur Rechenschaft ziehen zu können. Auch Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja hat zur Bildung eines internationalen Tribunals aufgerufen, um seine Verbrechen umfassend aufzuklären.

In internationalen Ranglisten zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit der vergangenen Jahre wird Belarus stets als „konsolidiertes autoritäres Regime“ (Freedom House), „autoritäres Regime“ (Democracy Index, The Economist Intelligence Unit), „elektorale Autokratie“ (V-Dem Institute) oder „gemäßigte Autokratie“ (Transformation Index der Bertelsmann Stiftung) eingestuft.

Entwicklung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit

Die Anfänge

Das heutige Territorium des Landes war zu verschiedenen Zeiten Teil der Kiewer Rus, des Großfürstentums Litauen, der Polnisch-Litauischen Adelsrepublik, des Russischen Reichs, der Zweiten Polnischen Republik und der Sowjetunion.

1918 kam es zu einem Versuch der Gründung eines Nationalstaats, indem sich die Belarussische Volksrepublik unter deutscher Besatzung zu einem unabhängigen Staat erklärte. Sie existierte allerdings nur bis zur Gründung der Belarussischen Sozialistischen Sowjetrepublik im Jahr 1919 und genoss nur bedingte internationale Anerkennung.

Zeitenwende

Erst nach dem Zerfall der Sowjetunion entstand schließlich ein eigenständiger Staat Belarus. Am 25. August 1991, wenige Tage nach dem gescheiterten Augustputsch in Moskau, kam es zur Unabhängigkeitserklärung. Seit September 1991 lautet die offizielle Bezeichnung „Republik Belarus“. Die Auflösung der Sowjetunion erfolgte schließlich im Dezember 1991, und zwar auf belarussischem Territorium, im Nationalpark „Bialowieza-Urwald“.

Die Mehrheit der Bevölkerung des neu entstandenen Belarus hatte allerdings weder eine wirkliche Unabhängigkeit von Russland erwartet noch entschieden dafür gekämpft. Es gab damals keine starke, national geprägte Unabhängigkeitsbewegung, wie es z. B. in den Baltischen Staaten der Fall war. Ende der 1980er entstand zwar eine prodemokratische, national orientierte und zugleich russlandkritische Bewegung Belarussische Volksfront „Erneuerung“, welcher 1990 sogar der Einzug ins Parlament gelang. Sie vertraten aber nur einen kleinen Teil der Bevölkerung. In den ersten Unabhängigkeitsjahren herrschte unter vielen Belarussinnen und Belarussen noch eine Nostalgie hinsichtlich der Sowjetzeiten vor sowie ein Unsicherheitsgefühl über die eigene Zukunft, sodass
Fragen der nationalen Identität, Sprache und Kultur nur bedingt von Bedeutung waren.

Die Gründung der Republik Belarus zog keinen Elitenwandel nach sich. Zwischen 1991 und 1994 versuchten die sowjetischen Eliten, die politische und wirtschaftliche Macht im Land beizubehalten. Die damalige Regierungsform kann als eine „quasi-parlamentarische Republik“ oder eine „Premierminister-Diktatur“ bezeichnet werden, da die Macht in den Händen exsowjetischer Funktionäre unter Ministerpräsident Wjatscheslaw Kebitsch an der Spitze konzentriert wurde.

Das Fehlen wirtschaftlicher und politischer Reformen verursachte eine tiefe Wirtschaftskrise und als Folge eine sinkende Popularität der Kommunistischen Partei.

Autokratie unter Lukaschenko

In der neu verabschiedeten und durchaus demokratischen Verfassung vom Jahr 1994 wurde die Institution der Präsidentschaft eingeführt – vor allem mit dem Ziel, die Staatsgewalt beim Präsidenten zu konzentrieren, um so die Krise schneller überwinden zu können.

Im Ergebnis der ersten (bis dato auch letzten) freien Wahlen in Belarus wurde überraschend ein Kandidat gewählt, der weder eine Parteibindung noch eine Unterstützung seitens des Regimes oder aus Wirtschafts- und Finanzkreisen erfuhr. Der 39-jährige Parlamentsabgeordnete und ehemalige Vorsitzende einer Sowchose, Alexander Lukaschenko, bekam in der 2. Wahlrunde über 80 Prozent der Wahlstimmen. Er wurde im Parlament als Anti-Korruptionskämpfer und Gegner einer Privatisierung bekannt, nannte sich einen „Volkskandidaten“ und betonte seine prorussische Orientierung. Einfache Antworten auf schwierige Fragen kamen bei einer krisenmüden Bevölkerung ohne eine starke demokratische Tradition gut an. Der Vorsitzende der nationalorientierten Partei „Belarussische Volksfront“, Sjanon Pasnjak, kam in der 1. Wahlrunde auf nur unter 13 Prozent. Damit wurde Lukaschenko zum ersten demokratisch gewählten Präsidenten des unabhängigen Belarus. Eine Konsolidierung der jungen Demokratie folgte allerdings nicht – stattdessen wurde das Land zu einer Autokratie und wird bis heute von Lukaschenko regiert.

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Presse- und Meinungsfreiheit

Die umfassende Kontrolle über das politische Geschehen im Land, auch bekannt als die Machtvertikale, wird unter anderem durch die gezielte Beeinflussung der öffentlichen Meinung sichergestellt, die wiederum auf der Kontrolle über die Medienlandschaft beruht. In der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen belegt Belarus 2021 mit Platz 158 von 180 einen der hintersten Plätze.

Zunächst hatte die Zivilgesellschaft Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre noch einen „Boom“ erlebt. Es entstanden landesweit Jugend-, Kultur- und Umweltinitiativen (u. a. aufgrund der Tschernobyl Katastrophe 1986). Meinungs- und Versammlungsfreiheit war mehr oder weniger garantiert.

Ab 1996 begann jedoch eine Repressionswelle bzw. Verschärfung der Gesetzlage. Aktivitäten im Namen nicht registrierter NGOs wurden in Belarus strafrechtlich verfolgt. Viele Akteure wurden ins Staatsregister überhaupt nicht eingetragen. Sie mussten sich daher im Ausland registrieren lassen, auch die Finanzierung erfolgte hauptsächlich über das Ausland. Büros vieler internationaler Strukturen wurden geschlossen: Soros-Stiftung (1997), Friedrich-Ebert-Stiftung (2011), OSZE-Büro (2011). Gleichzeitig entstanden sogenannte GONGOs (staatskonforme nichtstaatliche Organisationen). Diese werden vom Staat finanziert und vertreten die offizielle politische Linie der Regierung. Das führte zum Phänomen der „Zwillings-NGOs“ in Belarus. So gibt es beispielsweise zwei Journalistenverbände (unabhängige und pro-staatliche), zwei Gewerkschaftsverbände, zwei Jugendverbände usw. Bis vor Kurzem genossen NGOs in Belarus, ebenso wie Parteien, keine breite öffentliche Anerkennung und Popularität. Laut einer Umfrage von 2017 hatten nur 5 Prozent der Bevölkerung Erfahrung mit bürgerlichen Aktionen, während fast 90 Prozent nichts oder nur wenig über die Arbeit der NGOs wussten (Umfrage vom 2019).

Obwohl Presse- und Meinungsfreiheit in Belarus durch die Verfassung offiziell garantiert ist, bleiben Fernsehen und Radio unter Staatskontrolle und werden erheblich zensiert. So kamen einige Exilsender mit Sitz in verschiedenen EU-Staaten hinzu (BelSat TV, Europäisches Radio für Belarus, Radio Racyja, Radio Svaboda). Unabhängige Online-Medien gewannen in den letzten zehn Jahren massiv an Bedeutung. Der Anteil der Bevölkerung, die Informationen aus alternativen Online-Quellen erhalten, stieg von 24 Prozent im Jahr 2010 auf 60 Prozent im Jahr 2018. Ferner belief sich die Zahl der Nutzerinnen und Nutzer von Online-Medien seit 2018 auf 80 Prozent der Bevölkerung und mehr – damit liegt Belarus über dem Weltdurchschnitt von ca. 60 Prozent (2021). Somit hat die Bevölkerung trotz der staatlich kontrollierten Medienlandschaft dennoch Zugang zu unabhängigen Nachrichtportalen, auch wenn diese ständig unter den Repressalien staatlicher Behörden zu leiden haben.

So hat die belarussische Regierung beispielsweise das unabhängige Nachrichtenportal tut.by Ende 2020 wegen Verdacht auf Verbreitung vertraulicher Informationen geschlossen. Unabhängige Journalistinnen und Journalisten sowie Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten werden regelmäßig psychischen und körperlichen Belästigungen ausgesetzt, eingeschüchtert und verfolgt. Einige werden unter absurden Anschuldigungen zu Haftstrafen verurteilt.
Aufgrund von angeblichen Terror-Gefahren hat Lukaschenko 2021 den Druck auf Medienschaffende, Kritiker und Oppositionelle weiter erhöht. So kam es beispielsweise zu Durchsuchungen bei Journalisten von BelSat und Radio Svaboda. BelSat ist ein polnischer Fernsehsender für Zuschauer in Belarus. Er möchte der belarussischen Bevölkerung eine Alternative zum belarussischen Staatsfernsehen zu bieten. Auch die Redaktion von Radio Svaboda in Minsk sei aufgebrochen worden, Technik konfisziert und das Büro versiegelt.

Lukaschenko hat pauschal 1500 (von insgesamt 3000)  Organisationen des individuellen Terrors beschuldigt,ohne irgendeinen Beweis zu liefern. Er werde sie zur Verantwortung ziehen, so Lukaschenko bei einem Treffen mit Putin. So geht nun ein erneute Verhaftungswelle  durch das Land. Menschenrechtsorganisationen verzeichnen miittlerweile die Rekordzahl von 563 politischen Gefangenen, darunter Journalisten, Aktivisten, Anwälte, Studenten, laufend kommen weitere hinzu.

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Justiz und Verfassung

Sowohl Legislative als auch Judikative sind in die Machtvertikale eingebunden und unterstehen somit der Logik des Machterhalt des bestehenden Regimes. Der Transformationsindex der Bertelsmann-Stiftung (BTI) bewertet die Rechtsstaatlichkeit in der Republik Belarus 2020 mit 4 von 10 Punkten, wobei das Land beim Kriterium der Gewaltenteilung besonders schlecht abschneidet (3 von 10).

Das 1996 durch Präsident Lukaschenko initiierte Verfassungsreferendum (von Beobachtern zuweilen auch mit einem Staatsstreich verglichen) führte zu einer Beschneidung der Kompetenzen des Parlaments und verwandelte das Land de facto in eine präsidiale Autokratie. Ein weiteres Referendum von 2004 ermöglichte es dem Präsidenten, mehr als zwei aufeinanderfolgende Amtsperioden anzutreten.

Eine Aufteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative ist zwar in der aktuellen Verfassung vorgesehen, findet in der Realität allerdings nicht statt. Der Präsident ist der mächtigste politische Akteur in der Legislative (er erlässt die gesetzähnlichen Dekrete und kann somit die bestehenden Gesetze „überschreiben“) und Exekutive (er ernennt alle Ministerposten) und beeinflusst indirekt die Funktionsweise von Justizbehörden. Die Judikative verfügt über keine machthemmende Funktion. Der Präsident hat die Befugnis, von den 12 Verfassungsrichtern 6 direkt und die anderen 6 Richter indirekt über die Regierung zu ernennen. Das Gerichtssystem wird oft zum Instrument der Politik und staatlicher Repressionen.

Die Abgeordneten im Parlament sind in der Regel Vertreterinnen und Vertreter staatlicher und staatsloyaler Institutionen. In Belarus spielen Parteien eine untergeordnete Rolle, über 95 Prozent der gewählten Abgeordneten sind parteilos. Die 110 Abgeordneten des Repräsentantenhauses werden direkt gewählt, haben aber keine demokratischen Funktionen. Es werden keine wirklichen Debatten durchgeführt, Gesetze sind meist vorgefertigt und werden sogleich verabschiedet. Die lokale Selbstverwaltung wurde abgeschafft. Führungskräfte werden von der zentralen Regierung ernannt.

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Lage der Opposition und Umgang mit Minderheiten

Auch in Autokratien wie Belarus existieren prodemokratische Akteure, Parteien der Opposition, nichtstaatliche Organisationen (NGOs) oder Gewerkschaften, auch wenn sie aufgrund der Gesetzgebung und entsprechenden Repressionen einen schwierigen Stand haben.

In Belarus gibt es keine „Partei der Macht”, dafür aber mehrere staatsloyale sowie auch oppositionelle Parteien, die allerdings keine breite Unterstützung bzw. kein Vertrauen der Bevölkerung genießen und in Wahlgremien fast nicht vertreten sind. Den oppositionellen Parteien fehlt es oft an einer einheitlichen Strategie und ausreichenden Finanzierungsquellen im Land; sie werden regelmäßig vom Staat unterdrückt.

Die durch die Corona-Krise verschlechterte Wirtschaftslage, die inkohärente Informationspolitik des Gesundheitsministeriums sowie die Arroganz und der Mangel an Empathie für die Bevölkerung seitens des Präsidenten während der Pandemie trugen zur Politisierung der Gesellschaft sowie einem Solidaritätsgefühl unter den Menschen bei. Gleichzeitig sank das Vertrauen gegenüber staatlichen Institutionen, eine Proteststimmung im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2020 machte sich breit.

Neue Oppositionsfiguren

Unter diesen Umständen erfuhren neue Oppositionsfiguren außerhalb der klassischen Parteiopposition – YouTube Blogger Zichanouski, zwei ehemalige Elitenfunktionäre Babaryka und Zapkala und später das  „Frauentrio”: Tichanowskaja, Zapkala und Kalesnikawa-  großen Zuspruch und konnten neue politische Botschaften entwickeln. Sie mobilisierten Menschen über Online-Kanäle und ermutigten sie, sich rechtlich zulässigen Instrumenten zu bedienen, um gegen das System aufzubegehren (Unterschriften sammeln, Beschwerden einreichen, Wahlen beobachten usw.). So wurde eine kritische Masse an Menschen mobilisiert, die früher nicht politisch aktiv war. Für dieses unermüdliche Engagement wurde das Frauentrio mit dem Karlspreis ausgezeichnet. Sie wurden für ihren Mut und ihren ermutigenden Einsatz für Freiheit und Demokratie ausgezeichnet, so die Jury. Der Karlspreis wird seit 1950 verliehen und gilt als älteste und wichtigste Auszeichnung für Verdienste um die Verständigung und Zusammenarbeit in Europa.

Vor den Präsidentschaftswahlen 2020 schien es, als ob die Opposition die bis dato stets sichere Mehrheit des Präsidenten womöglich ins Wanken bringen könnte. Doch auch aus dieser Wahl ging Lukaschenko nach offiziellen Angaben der belarussischen Wahlkommission abermals mit rund 80 Prozent der Stimmen als Sieger hervor. Das verkündete Wahlergebnis halten Beobachterinnen und Beobachter allerdings für gefälscht. Umfragen deuteten auf ein anders gelagertes Meinungsbild in Belarus hin. Die Europäische Union hat Alexander Lukaschenko wegen der mutmaßlich gefälschten Auszählung der Wahl nicht mehr als Präsidenten anerkannt.

Protestwelle nach Präsidentschaftswahl 2020

Die Verkündung der Wahlergebnisse führte zu  landesweiten Protesten. Die Proteste haben zwar nicht zu einem Regimewechsel in Belarus geführt, allerdings hat Lukaschenko offensichtlich seine frühere Legitimität in der Gesellschaft verloren. Laut einer online durchgeführten Umfrage von „Chatham House“ (September 2020) wird Lukaschenko nur noch von lediglich 23 Prozent der Bevölkerung unterstützt. Das Land befindet sich aktuell immer noch in einer nicht gelösten politischen Krise.

„Es sieht im Moment so aus, als hätten wir verloren”

Das Resümee der Opposition nach der Protestwelle 2020 ist ernüchternd, die Opposition in Belarus sei fürs Erste gescheitert, so sehen es auch führende Vertreter wie Maria Kalesnikawa, eine der drei Führerinnen der Opposition, die in Belarus von mutigen Frauen getragen wird. Seit September 2020 ist Kalesnikawa in Haft, samt ihrer Anwälte; ein Jahr später wurde sie zu elf Jahren Haft verurteilt. „Es sieht im Moment so aus, als hätten wir verloren. Wir haben nicht die Mittel, um der Gewalt des Regimes gegen die Demonstranten etwas entgegenzusetzen. Aber unsere Strategie ist es, uns besser zu organisieren, das Regime unter ständigen Druck zu setzen, bis die Menschen wieder bereit sind, auf die Straße zu gehen“, so Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja, die derzeit im politischen Exil in Litauen lebt.

Massive Repressionen und Verfolgung - im Inland und im Exil

Die größten und längsten Nachwahlproteste 2020 verursachten eine beispiellose Repressionswelle, die von Amnesty International als „die ungeheuerlichste Unterdrückung der Meinungsfreiheit und der friedlichen Versammlung in Belarus“ seit seiner Unabhängigkeit bezeichnet wurde. Mittels Polizeigewalt hat die Regierung Demonstrierende massiv unterdrückt und eingeschüchtert, Oppositionsführerinnen und Oppositionsführer wurden entweder verhaftet, getötet oder mussten ins politische Exil. In den letzten 40 Jahren sei es zu keinen härteren politischen Repressionen in Europa gekommen. Die Rede ist von über 40.000 Verhafteten, über 350 politischen Gefangenen, mindestens vier vermutlich von Sicherheitskräften Getöteten bzw. durch fehlende medizinische Hilfe Verstorbenen und über 1000 gemeldeten und nicht weiter untersuchten Folter- und Vergewaltigungsopfern (Stand: April 2021).  Amnesty International (AI), Human Rights Watch sowie belarussische Menschenrechtsaktivisten berichten seit Jahren regelmäßig über massive Menschenrechtsverletzungen in Belarus. Belarus ist zudem  das einzige europäische Land, in dem noch die Todesstrafe praktiziert wird.

Zu elf Jahren Haft wurde Maria Kalesnikawa im September2021  verurteilt. Sie ist eine der bedeutendsten Vertreterinnen der Opposition, die bewusst in Belarus verblieben ist, um weiterhin für Freiheitsrechte im Land zu kämpfen. Ihre beiden Mitstreiterinnen Swetlana Tichanowskaja und Veronika Zepkalo leben mittlerweile im Ausland im Exil. Gemeinsam wollten sie sich für die Demokratie in Belarus einsetzen. Immer wieder, auch bei der Urteilsverkündung, zeigt sich Kalesnikawa unerschütterlich und formt ein Herz mit ihren Händen – ihr Zeichen für Demokratie und Menschenrechte.

Die Einflussnahme Lukaschenkos beschränkt sich nicht nur auf Oppositionelle und Aktivisten. Wer immer es wagt, sich  kritisch gegenüber Regime und Funktionären zu äußern, läuft Gefahr unter Druck gesetzt zu werden. Machthaber Lukaschenko führt zusehends einen Kampf gegen die eigene Bevölkerung uns setzt die Zivilgesellschaft zunehmend unter Druck. So geriet im Rahmen der Olympischen Spiele 2021 auch die Sportlerin Kristina Timanowskaja in Bedrängnis. Der mutmaßliche Versuch der Entführung Timanowskajas – sie sollte offenbar gegen ihren Willen aus Japan zurück nach Belarus überführt werden – zeigt einmal mehr, wie Lukaschenko versucht, jegliche freie Meinungsäußerung zu unterbinden. Timanowskaja hatte in einem Instagram-Post die Funktionäre des belarussischen Nationalen Olympischen Komitees kritisiert.

Auch der Tod des Leiters einer belarussischen Exil-Gruppe Vitali Schischow gibt Anlass für Mutmaßungen. Der als vermisst gemeldete Chef der Organisation wurde in der Ukraine tot aufgefunden, erhängt in einem Kiewer Park. Die Polizei gehe auch dem Verdacht eines als Suizid getarnten Mordes nach. Die Organisation „Belarussisches Haus in der Ukraine“ kümmert sich um Unterbringung, Aufenthaltsgenehmigungen und Arbeitsplätze für aus Belarus geflohene Gegner von Präsident Alexander Lukaschenko. Die Organisation mutmaßt eine „geplante Operation“ der belarussischen Führung zur „Eliminierung“ eines Regierungskritikers. Es sei offensichtlich, dass die belarussischen Geheimdienste Schischow getötet hätten.

Tausende Regimekritiker sind seit den Nachwahl-Protesten 2020 ins Ausland geflohen. Aber auch im ausländischen Exil sind sie nicht sicher vor Verfolgung.

Der Fall Roman Protassewitsch

Weltweit große Aufmerksamkeit hat auch das Vorgehen gegen den oppositionellen Journalisten Roman Protassewitsch im Mai 2021 erregt. Zeigte es doch, wie weit Machthaber Lukaschenko bereit ist, gegen die Opposition sowohl im Land als auch außerhalb des Landes vorzugehen. Am 23. Mai 2021 ließ Lukaschenko ein  Passagierflugzeug kapern, das sich auf dem Weg von Griechenland nach Litauen befand, und zwang es mittels Luftstreitkräften zur Landung in der belarussischen Hauptstadt Minsk. Eine angebliche Sicherheitsbedrohung soll der Grund dafür gewesen sein. Bei der Landung wurde jedoch der belarussische Regimekritiker und Blogger Roman Protassewitsch umgehend verhaftet, ebenso seine Freundin Sofija Sapega. Wie Tichanowskaja lebt Protassewitsch derzeit im politischen Exil in Litauen. Der 26-Jährige wird in Belarus per Haftbefehl gesucht, ihm droht eine Gefängnisstrafe von bis zu 15 Jahren oder Schlimmeres. In Belarus steht auf sehr schwere Verbrechen die Todesstrafe, die auch noch vollstreckt wird. Lukaschenko wirft Protassewitsch vor, er sei ein „Terrorist” und hätte einen „blutigen Aufstand“ in Belarus geplant. Außerdem hätte er in der Ostukraine aufseiten von Regierungstruppen gekämpft: „Dieses Dreckschwein hat im Südosten der Ukraine Menschen getötet. Diese Fakten sind nicht nur bei uns, sondern auch bei unserem Bruderstaat Russland bekannt – und in der ganzen Welt“, so Lukaschenko nach der Festnahme. Die Eltern von Protassewitsch äußerten die Befürchtung, das nach der Verhaftung veröffentlichte Video-Geständnis ihres Sohnes vom 24.Mai, in dem er zugab, für die Organisation von Protesten gegen die Regierung verantwortlich zu sein, sei mutmaßlich unter Druck oder gar Folter zustande gekommen.

Wenige Tage später wurde im belarussischen Fernsehen ein 90-minütiges Interview mit Protassewitsch ausgestrahlt, welches auch auf YouTube veröffentlicht ist. Geführt wurde es vom Direktor des staatlichen TV-Kanals ONT höchstpersönlich und erinnerte mit seiner Szenerie an ein Verhör. Protassewitsch betonte, dass er sich gut fühle, bekannte sich schuldig und gab erneut zu, zu Massendemonstrationen aufgerufen zu haben. Außerdem drückte er seine Bewunderung für Präsident Lukaschenko aus und äußerte sich negativ über andere Oppositionelle. Seine Familie und die Opposition sind sich sicher, dass auch diese Äußerungen nur unter massivem Druck entstanden sein können.  „Sie haben ihn gebrochen und ihn gezwungen, das zu sagen, was nötig war”, sagte Protassewitschs Vater, sein Sohn  hätte so etwas nie freiwillig gesagt. Am Ende des Interviews brach Protassewitsch in Tränen aus, er hoffe, er würde eines Tages ein normales Leben führen können und Familie und Kinder haben.

Protassewitsch war bis zum September 2020 Chefredakteur des Internetprojekts „Nexta“, über welchen die Proteste nach der Präsidentschaftswahl im vergangenen Jahr organisiert wurden. Der Gründer des Projekts „Nexta“, Stepan Putilo, äußerte sich zur Flugzeugentführung wie folgt: „Das war eine Spezialoperation, die allen Gegnern von Lukaschenko zeigen soll: Wir schrecken vor nichts zurück. Wir holen euch sogar aus der Luft. Und auch diejenigen, die im Ausland leben, sollen sich nicht sicher fühlen.“ Protassewitschs Familie bat die internationale Staatengemeinschaft eindringlich um Hilfe, die Freilassung ihres Sohnes zu erwirken.

Nach fünf Wochen Haft wurden Roman Protassewitsch und seine Partnerin Sofia Sapega Ende Juni 2021 tatsächlich aus dem Gefängnis entlassen und in „Hausarrest" überführt. Die „Präventionsmaßnahmen“ wurden offenbar geändert, Sie werden nun in einer Wohnung untergebracht, dort überwacht und dürfen nicht per Internet kommunizieren.. Dies sei einerseits eine „gute Nachricht“, so Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja. Zugleich betonte sie: „Hausarrest - das ist keine Freiheit.“ Protassewitsch und Sapega seien „Geiseln“ des Systems von Lukaschenko, sie seien weiter angeklagt und stünden unter dem Druck ihrer Peiniger. Zudem säßen weiter mehr als 500 Gefangene in belarussischen Gefängnissen. Anfang Mai 2023 wurde Protassewitsch zu acht Jahren Strafkolonie mit verschärfter Anstaltsordnung verurteilt. Wenige Wochen später soll Protassewitsch nun laut der belarussischen Staatsagentur Belta offenbar doch begnadigt worden sein. Er hatte sich in der Vergangenheit mehrfach vor dem Staatsfernsehen von seiner oppositionellen Tätigkeit distanziert.

Sanktionen gegen Belarus – Was können sie bewirken?

Nach diesem Vorfall wurden die Stimmen nach schärferen Maßnahmen gegen Machthaber Lukaschenko immer lauter, so auch von Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja aus dem litauischen Exil: „Die Zeit der Erklärungen ist vorbei. Die Belarussen erwarten ein entschiedenes Handeln und Hilfe von der internationalen Gemeinschaft. In dieser Woche ist ein politischer Gefangener im Gefängnis gestorben. Das Oppositionsmedium tut.by wurde zerschlagen, jetzt die Entführung eines Flugzeugs. Das alles geschah, weil das belarussische Regime bisher nicht bestraft wurde.“

Auch die internationalen Reaktionen fallen entsprechend aus, es ist von Staatsterrorismus und Luftpiraterie die Rede, und Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sprach von einer Entführung, für welche die Verantwortlichen sanktioniert werden müssten. Auf dem EU-Gipfel am 24.Mai 2021 hat die EU Sanktionsmaßnahmen gegen Belarusverhängt. „Wir werden Druck auf das Regime so lange ausüben“, kündigte Kommissionschefin Ursula von der Leyen an, „bis es die Freiheit der Meinung und die Freiheit der Medien respektiert.“ Kern der Strafmaßnahmen: Belarus wird vom europäischen Flugverkehr abgeschnitten.  Die Fluggesellschaften des Landes dürfen nicht mehr auf den Flughäfen der EU landen und auch nicht mehr von dort starten. Auch die Überflugrechte im Europäischen Luftraum sollen für Belarus weitgehend gesperrt werden. Weiterhin wollen die EU-Mitgliedstaaten den eigenen, den europäischen Fluglinien empfehlen, Belarus nicht mehr zu überfliegen, etwa bei Verbindungen von Europa nach Asien. Außerdem soll ein Drei-Milliarden-Investitionspaket an Belarus zurückgehalten werden. Es bleibe so lange eingefroren, „bis Weißrussland demokratisch wird“, erklärte Kommissionschefin von der Leyen. Auch die USA setzt auf Sanktionengegen Belarus.  Dazu gehörten Maßnahmen gegen neun staatliche Firmen sowie „Schlüsselfiguren des Regimes” von Lukaschenko.

Die schärferen Sanktionen gegen Präsident Lukaschenko kämen allerdings zu spät und könnten nicht viel ausrichten, so ARD-Korrespondentin Ina Ruck. Davon werde der belarussische Staatschef sich nicht beeindrucken lassen, weil er sich klar auf die Seite der russischen Regierung gestellt habe. Aus Moskau komme das Geld, das Lukaschenko das politische Überleben sichere. Warum Sanktionen gegen Belarus bisher wenig schaden und wie es um die Erfolgschancen „gezielter” Sanktionen stehe, zeigt eine Datenanalyse der Deutschen Welle am Beispiel Belarus.

Die raschen und deutlichen Sanktionen seitens der EU gegen Belarus in der jetzigen Situation seien zwar gut und ein wichtiges Zeichen, man müsse aber auch fragen, was die Sanktionen letztendlich bewirken würden und wen sie tatsächlich träfen: „Es war immer die Streitfrage, wem Sanktionen mehr schaden: dem Regime oder der Bevölkerung, indem langfristig Arbeitsplätze wegfallen?“, so die Analystin Olga Dryndova. Zudem stelle sich auch die Frage nach der Sicherheit der Menschen, die in Belarus noch immer versuchen, politisch aktiv zu sein, aber Angst haben und überlegen, auszureisen. Wie können sie nun überhaupt noch das Land verlassen? Bereits seit Ende 2020 sind die Landgrenzen de facto geschlossen – offizielle Begründung war damals die Corona-Pandemie. Man konnte Belarus fast nur noch über den Flughafen verlassen. Und wenn das nun nicht mehr geht – zumindest nicht in Richtung EU – bedeutet dies für die Belarussen, „dass sie im Land eingeschlossen sind”, so  die Expertin Olga Dryndova.

Im Juni erhöhte die EU nochmals den Druck auf Lukaschenko. Auf einem Treffen am 21. Juni 2021 verhängten die EU-Außenminister nochmals verschärfte Sanktionen gegen das Regime in Belarus: Neben der Listung von weiteren Unterstützern des Regimes werden Maßnahmen gegen sieben Wirtschaftsbereiche verhängt. Die Exportverbote und Blockaden richten sich jetzt gegen Bereiche, die von Staatsunternehmen beherrscht werden und die nach Einschätzung der EU zum Erhalt des Lukaschenko-Regimes beitragen.

Wenige Tage später hat Belarus seinerseits auf die Sanktionen der EU reagiert undGegenmaßnahmen verhängt.Der belarussische Vertreter bei der EU soll abgezogen werden. Der EU-Repräsentant in Minsk wiederum wurde aufgefordert, abzureisen. Ferner teilte das Außenministerium in Minsk mit, sich aus dem EU-Partnerschaftsprogramm zurückzuziehen.

Auch den Druck auf die Opposition hat Lukaschenko weiter erhöht. Pauschal hat er 1500 (von insgesamt 3000)  Organisationen des individuellen Terrors beschuldigt,ohne irgendeinen Beweis zu liefern. Er werde sie zur Verantwortung ziehen, so Lukaschenko bei einem Treffen mit Putin. So geht nun ein erneute Verhaftungswelle durch das Land. Menschenrechtsorganisationen verzeichnen miittlerweile die Rekordzahl von 563 politischen Gefangenen.Laufend kommen weitere hinzu. Das Regime hat den Druck auf Aktivisten und unabhängige Medien massiv erhöht.

Neue Protestwelle?

Angesichts der jüngsten Ereignisse hat die im litauischen Exil lebende Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja zu weltweiten Protesten gegen Machthaber Lukaschenko aufgerufenund Solidarität mit allen politischen Gefangenen gefordert. Seit 2020 befindet sich auch ihr Ehemann Sergej Tichanowski in belarussischer Haft, im Dezember 2021 wurde er zu 18 Jahren Haft verurteilt. Tichanowski hatte bei der Präsidentenwahl 2020 gegen Lukaschenko antreten wollen, wurde aber schon Monate vorher festgenommen. An seiner Stelle hatte deshalb seine Frau Swetlana Tichanowskaja kandidiert. Nach offiziellen Angaben hat sie zwar die Wahl gegen Lukaschenko verloren, für die Demokratiebewegung ist hingegen Tichanowskaja die Siegerin. Nach der Protestwelle 2020 hatte die Protestbewegung angekündigt, im neuen Jahr erneut aktiv zu werden. In ihnen brenne weiterhin „das Feuer und die Glut, für Veränderungen zu kämpfen“, so Tichanowskaja.

Ein Jahr nach den Massenprotesten in Belarus schloss die Opposition jedoch neue größere Aktionen aus. Der Preis dafür wäre zu hoch, so Tichanowskaja: „Jeder kann nicht für 15 Tage, sondern für Jahre ins Gefängnis kommen“. Die Gesellschaft müsse aber weiter mobilisiert werden, ohne dass Massen auf die Straße gingen. „Die Sicherheit der Menschen muss an erster Stelle stehen“, sagte die Oppositionsführerin.

Forderungen nach internationalem Tribunal gegen Lukaschenko

Angesichts des harten Vorgehens gegen Kritiker fordert die Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja härtere Maßnahmen gegen Präsident Lukaschenko. Bei einer Rede in Prag im Juni 2021 hat sie zur Bildung eines internationalen Tribunals aufgerufen, um die Staatsführung in Minsk zur Rechenschaft zu ziehen. Die „Verbrechen der Lukaschenko-Diktatur“ müssten untersucht werden. Unterdessen fordert auch die EVP im Europaparlament ein solches internationales Tribunal gegen Alexander Lukaschenko wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Auch die in Minsk geborene und heute in Deutschland lebende Journalistin Katja Artsiomenka fordert vom Westen mehr Engagement und Beistand. Jeden Tag würden Menschen in belarussischen Gefängnissen „unkenntlich“ gemacht, aus der Welt entführt und entmenschlicht. Wie lange jemand gequält werde, variiere nach Lust und Laune der Ermittler. Das Video mit Roman Protassewitsch im staatlichen Fernsehen sei kein Interview, auch kein sogenanntes Interview, kein Interview in Anführungszeichen oder kein Zwangsinterview, sondern Folter vor laufenden Kameras. Die Wirklichkeit werde nicht mehr bloß im Sinne von Lukaschenko verdreht, sondern neu erschaffen, indem Menschen das Menschsein geraubt werde. Die Forderungen an die Weltgemeinschaft, Lukaschenko als Terroristen einzustufen oder zu prüfen, ob seine Gräueltaten Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind, seien kein Ruf nach Haltung, sondern nach Gerechtigkeit.

Parallelen zu Russland

Die Parallelen im Fall von Russland und Belarus sind offensichtlich, so die Meinung von Osteuropa-Experten. Beide Regime sind aufgrund des autoritären Regierungsstils ihrer Machthaber seit Jahrzehnten dabei, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu untergraben, wobei Belarus sich zusehends in die Abhängigkeit des „großen Bruders“ Russland begibt, dessen geopolitische Interessen in der Region unverkennbar sind. Und um ihre Macht zu erhalten, sind Putin und Lukaschenko offenbar bereit, zu allen Mitteln zu greifen, um die im Land aufkeimende Opposition klein zu halten. So werden nun auch vom Fall Protassewitschs Parallelen zum Fall Nawalny gezogen. Das Video mit den Bildern des verhafteten belarussischen Regimegegners Protassewitsch sei wohl nicht unter normalen Bedingungen zustande gekommen, sagte Osteuropa-Experte Wilfried Jilge im Dlf. Familie und oppositionelle Mitstreiter bangen nun um das Leben des jungen Bloggers wie auch schon mehrfach das Leben des russischen Kreml-Kritikers Nawalny auf dem Spiel stand.


Zur aktuellen Lage in Russland und dem Fall Nawalny


Gemeinsame Strategie für die Region

Dass die von der EU in der Vergangenheit verhängten Sanktionen gegen Belarus nicht wirksam waren, ist offensichtlich. Zuletzt wurden 2020 aufgrund des repressiven Vorgehens gegen Oppositionelle und Demonstrierende im Zuge der Präsidentschaftswahlen Sanktionen gegen das Land verhängt. Diese gingen jedoch nicht weit genug und blieben weitgehend wirkungslos. Solange Belarus von Russland unterstützt wird, verlaufen die Sanktionen seitens der EU im Sande.
Osteuropa-Experten fordern daher von der EU eine gemeinsame Russland-Belarus-Strategie bzw. eine intensivere Nachbarschaftsstrategie für die Region östliches Europa insgesamt, um tatsächlich positiven Einfluss auf die Region nehmen zu können. Osteuropa-Experte Wilfried Jilge fordert : „Die Europäische Union muss endlich Strategien in ihrer Nachbarschaftsregion entwickeln – Strategien, die verflochten sind zwischen erweiterter Sicherheit, Wirtschaft und auch der Wahrung des internationalen Rechts. Ich nenne nur mal das Beispiel der Schwarzmeer-Region, wo ja auch die EU ganz massive eigene Interessen hat. Da muss sie ihre Partner stärken, die Georgier, die Ukrainer, die Moldauer, weil man einen direkten Einfluss auf Moskau so einfach nicht hat. Deswegen muss man selbst für ein attraktives Auftreten in der Region sich einsetzen. Dazu bedarf es einer Strategie. Die muss auch sicherheitspolitische Komponenten einschließen.”


Umgang mit Minderheiten

Das Lukaschenko-Regime orientiert sich kulturell und politisch am großen Nachbarn, der Russischen Föderation, und versucht eine sogenannte föderative Union Russland-Weißrussland zu institutionalisieren. Darüber hinaus wird den Russen, die zahlenmäßig die größte nationale Minderheit des Landes darstellen, im öffentlichen Leben der Vorzug nicht nur gegenüber den anderen nationalen Minderheiten eingeräumt, sondern auch gegenüber den Weißrussen selbst.

Ganz anders geht die belarussische Regierung mit der polnischen Minderheit um, die in den letzten Jahren wegen aktiver Teilnahme an den regierungskritischen Protestbewegungen und -aktionen massiv angegriffen und unter Druck gesetzt wird. Die polnischen Bildungseinrichtungen und Institutionen werden geschlossen. Es sind schon mehrere Fälle von Verhaftungen der Aktivistinnen und Aktivisten der polnischen Minderheit bekannt: Andzelika Borys, die Präsidentin der Union der Polen in Belarus, wurde zusammen mit fünf weiteren Beschäftigten wegen Organisation unerlaubter Massenveranstaltungen in Belarus zu fünfzehn Tagen Freiheitstrafe verurteilt, was zu diplomatischen Spannungen mit der polnischen Regierung geführt hat.
 
Belarus ist im Übrigen das einzige europäische Land, das kein Mitglied des Europarates ist. Seine Mitgliedschaft wurde wegen der gravierenden Menschenrechtsverletzungen seitens der staatlichen Behörden eingefroren. Dem Rahmenübereinkommen zum Schutz der nationalen Minderheiten und der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen ist Belarus dementsprechend auch nicht beigetreten.

 

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Autorin: Olga Dryndova. Aufbereitung und Aktualisierung für das Netz: Internetredaktion der LpB

Quellen und weiterführende Literatur

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