Bergkarabach-Konflikt

zwischen Armenien und Aserbaidschan

Der Konflikt um das Gebiet Bergkarabach, auch Nagorno-Karabach (russisch) oder Arzach (armenisch), ist ein ethno-territorialer Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan. Während die Ursprünge der Auseinandersetzung um die gebirgige Region mit einer Fläche von gerade einmal rund 4.400 km bis ins 18. Jahrhundert zurückreichen, eskalierten die Kämpfe im Zuge des Zerfalls der Sowjetunion zu einem Krieg. Dieser forderte zwischen 1992 bis 1994 mehrere Zehntausende Todesopfer auf beiden Seiten und führte zu massenhafter Flucht und Vertreibung. Das Waffenstillstandsabkommen vom Mai 1994 beendete zwar die Kampfhandlungen, konnte jedoch bis heute nicht in ein Friedensabkommen überführt und zu einer nachhaltigen Lösung des Konflikts genutzt werden.

Mit dem seit 1994 bestehenden, mehr oder minder stabilen Status quo gehörte Bergkarabach zu den sogenannten „eingefrorenen“ Konflikten: Die 1991 erklärte Unabhängigkeit des überwiegend armenisch besiedelten Bergkarabach von Aserbaidschan wurde international nie anerkannt, militärisch jedoch durch Armenien abgesichert, unter anderem durch die aus völkerrechtlicher Sicht illegale Besetzung sieben weiterer aserbaidschanischer Provinzen.

Im September 2020 begann Baku mit einer umfassenden Militäroffensive, um die besetzten Gebiete nach Jahren des diplomatischen Stillstands zurückzuerobern. Das am 9. November 2020 mit Vermittlung der Russischen Föderation geschlossene Waffenstillstandsabkommen legte unter anderem veränderte Grenzziehungen fest und schuf somit neue Tatsachen in der Region Südkaukasus. Doch die Waffenruhe war brüchig, immer wieder kam es zu einem Aufflammen des Konflikts wie die jüngsten Auseinandersetzungen sowohl in als auch außerhalb der Region Bergkarabach zeigten. Eine im Januar 2023 beschlossene zivile Beobachtermission der Europäischen Union versucht, einen Beitrag zur Befriedung der Region zu  leisten und die Zahl der Zwischenfälle im Konfliktgebiet zu verringern.

Allerdings startete Aserbaidschan im September 2023 erneut eine Offensive auf die Region. Bereits tags darauf wurde unter Vermittlung Russlands eine Feuerpause vereinbart. Kurz darauf hat Aserbaidschan den militärischen Sieg über Armenien im Berg-Karabach-Konflikt erklärt. Die Situation der unter der jüngsten Blockade Aserbaidschans leidenden armenischen Bevölkerung in der Region hatte sich in den vergangenen Monaten katastrophal zugespitzt. Nach der Offensive setzte eine Massenflucht der armenischen Bevölkerung Bergkarabachs nach Armenien ein. Ferner hat Armeniens Präsident ein Dekret unterzeichnet, demgemäß er sich mit der Auflösung der selbsterklärten Region Berkarabach zum 1. Januar 2024 bereit erklärt.

Völkermord an den Armeniern 1915/16

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Der Genozid der Jahre 1915/16 kostete anderthalb von 2,5 Millionen osmanischer Armenier das Leben. Wer nicht den systemischen Massakern zum Opfer fiel, starb an den Folgen der Deportation, an Hunger, Seuchen und den Strapazen der Todesmärsche.

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Armenien - wie weiter?

Dr. phil. Tessa Hofmann

Nach dem Angriff Aserbaidschans auf Bergkarabach im September 2023 hat die Regierung in Baku die Auflösung der Region verkündet. Dieser Beitrag schildert die Hintergründe des Bergkarabachkonflikts, seine Auswirkungen sowie die aktuelle Situation der vertriebenenen armenischen Bevölkerung..

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Weitere Kriege und Konflikte

im postsowjetischen Raum und auf dem Balkan

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Dossier „Kriegsverbrechen”

Krieg um Bergkarabach 2020

Wie schnell sich ungelöste, vermeintlich „eingefrorene“ Territorialkonflikte in heiße Kriege verwandeln können, demonstrierte die Eskalation zwischen Armenien und Aserbaidschan im Herbst 2020 eindrücklich. Am 27. September verkündete die aserbaidschanische Regierung – angeblich in Reaktion auf armenische militärische Vorstöße –, dass man den Konflikt nun mit militärischen Mitteln lösen wolle und die „Befreiung aller okkupierten Landesteile“ anstrebe. Es kam zu ersten schweren Kämpfen an der sogenannten Demarkationslinie und in den darauffolgenden Wochen zu deutlichen aserbaidschanischen Landgewinnen in den besetzten Gebieten und Bergkarabach selbst.

Die militärische Dominanz Aserbaidschans wurde durch den  Einsatz neuer Waffentechnologien wie Drohnen bedingt, die Baku in den letzten Jahren unter anderem aus der Türkei und Israel bezogen hatte. Auch wenn die Türkei nicht offiziell an der Seite des langjährigen regionalen Verbündeten Aserbaidschan in den Krieg eingriff und das Ausmaß der türkischen Unterstützung nicht ganz klar ist, spielte sie wohl eine wesentliche Rolle durch die Bereitstellung von Ausrüstung und nachrichtendienstlichen Informationen, insbesondere für den Drohneneinsatz. Darüber hinaus gab es Berichte über den Einsatz syrischer Söldner durch Ankara, was einer indirekten Kriegsbeteiligung der Türkei gleichkäme. Die türkische Regierung bestritt einen solchen Einsatz zwar, er ist jedoch der Informationslage nach zu urteilen wahrscheinlich.

Anfang November 2020 nahmen die aserbaidschanischen Streitkräfte die strategisch wichtige Stadt Schuscha ein. Durch die Lage nahe des Latschin-Korridors, also der Hauptlandverbindung zwischen Armenien und Bergkarabach, sowie nahe und oberhalb der karabachischen Hauptstadt Stepanakert war der Verlust Schuschas ein herber militärischer Rückschlag für die armenische Seite. Am Tag darauf, in der Nacht vom 9. auf den 10. November 2020, sah sich die Regierung um Premierminister Nikol Paschinjan gezwungen, ein von Moskau vermitteltes Waffenstillstandsabkommen zu unterzeichnen.

Nach dem Abkommen musste Armenien die als Sicherheit gehaltenen aserbaidschanischen Gebiete abtreten, ebenso einen Teil Bergkarabachs. Der Latschin-Korridor als Verbindung zwischen Bergkarabach und Armenien wurde der Kontrolle einer russischen Friedensmission unterstellt, die auch die Überwachung des Waffenstillstands übernimmt. Das ca. 2.000 Personen starke Kontingent soll zunächst fünf Jahre lang in Bergkarabach verbleiben, mit der Option auf weitere Verlängerung. Weiterhin ungeklärt blieb der wesentliche Konfliktpunkt, nämlich der völkerrechtliche Status Bergkarabachs. Laut Moskau sollte diese Frage wie schon zuvor im Rahmen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) verhandelt werden. Die Unterzeichnung des Abkommens, das die militärische Unterlegenheit Jerewans widerspiegelte, löste eine innenpolitische Krise in Armenien aus. Am 10. November kam es zu Demonstrationen und Ausschreitungen in der armenischen Hauptstadt, die Protestierenden drangen ins Parlamentsgebäude ein. Sie forderten den Rücktritt Paschinjans und seiner Regierung sowie die Rückeroberung der Gebiete auf aserbaidschanischem Territorium, die sie als armenisch betrachteten. Im April 2021 trat Nikol Paschinjan zurück und kündigte Neuwahlen an. Die im Juni des Jahres abgehaltene Wahl zeigte vor allem die Legitimität der Regierung und die breite gesellschaftliche Akzeptanz des Waffenstillstandsabkommens: Paschinjans Partei „Zivilvertrag“ erhielt die absolute Mehrheit, während radikale Stimmen, die etwa die Wiederaufnahme der Kampfhandlungen forderten, eine am Ende zahlenmäßig kleine, wenn auch lautstarke Minderheit bildeten.

Neben Grenzverschiebungen und Verschiebungen in den politischen Machtverhältnissen in der Region dürfen vor allem die menschlichen Kosten des erneuten Kriegs um Bergkarabach nicht vergessen werden. Von den ca. 150.000 Menschen, die vor dem Ausbruch der Kampfhandlungen in Bergkarabach lebten, floh zunächst fast die Hälfte, die meisten davon nach Armenien. Etwa 150 Zivilisten starben, ebenso wie mehr als 2.300 Militärangehörige auf armenischer und mehr als 2.780 auf aserbaidschanischer Seite. Die Konfliktparteien warfen sich gegenseitig Kriegsverbrechen wie die Tötung von Zivilisten, die Zerstörung von Gräbern und Kulturstätten und die Misshandlung von Kriegsgefangenen vor, was auch von internationalen Organisationen wie Amnesty International teilweise verifiziert wurde.

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Hintergründe und historische Einordnung

Die historischen Wurzeln des Konflikts um Bergkarabach lassen sich Jahrhunderte zurückverfolgen. Immer wieder wechselnde Herrschaftsverhältnisse führten dazu, dass sich armenische, persische, tatarisch-mongolische, türkische, russische und andere Einflüsse vermischten. Mit den Prozessen der Nationenbildung, die nicht nur im Südkaukasus, sondern in ganz Europa in den Beginn des 20. Jahrhunderts fielen, gewann die Frage der nationalen Identität an Bedeutung. Als Armenien, Aserbaidschan und Georgien 1918 ihre Unabhängigkeit erklärten, kam es zu politischen und teilweise auch gewaltsamen Auseinandersetzungen über die Frage, zu welchem Staat die Region Bergkarabach gehören sollte. Aserbaidschan setzte sich mit Unterstützung des Osmanischen Reiches (heutige Türkei) und mit Wohlwollen des zu der damaligen Zeit in der Region aktiven Vereinigten Königreichs durch und erhielt die Verwaltungsgewalt über Bergkarabach. Die mehrheitlich armenische Bevölkerung konnte im August 1919 ein Abkommen mit Aserbaidschan aushandeln, das dem Gebiet immerhin weitreichende Autonomierechte garantierte. Dieses wurde jedoch immer wieder verletzt, was in Revolten seitens der Bergkarabach-Armenier sowie gewaltsamen Vergeltungsschlägen seitens Aserbaidschans resultierte. Das Pogrom von Schuscha (armenisch: Schuschi), das bis heute eine große Rolle in der kollektiven Erinnerung Armeniens spielt, fällt in diese Zeit.

Diese Spannungen wurden während der sowjetischen Phase zwischen 1920 und 1988 gleichzeitig unter Verschluss gehalten und verschärft. Einerseits sorgte die sowjetische Zentralregierung in Moskau dafür, dass in den Unionsrepubliken, also auch in Armenien und Aserbaidschan, keine politischen Unruhen entstanden. Andererseits wurde das mit ca. 95 Prozent mehrheitlich armenisch besiedelte Bergkarabach bereits 1920 der Aserbaidschanischen Unionsrepublik zugeschlagen, was einen wesentlichen Grundstein für spätere Konflikte legte. Mit ersten Auflösungserscheinungen der Sowjetunion Ende der 1980er Jahre traten die Themen Nationsbildung und nationale Selbstbestimmung wieder an die Oberfläche, und damit auch die bestehenden Konfliktlinien und interethnische Spannungen.

Im Februar 1988 verabschiedete das Parlament des Autonomen Gebiets Bergkarabach eine Resolution zum Übertritt von der Aserbaidschanischen zur Armenischen Unionsrepublik. Mit der Auflösung der Sowjetunion folgte 1991 die Unabhängigkeitserklärung – während auch Armenien und Aserbaidschan zu unabhängigen Staaten wurden. Begleitet wurden diese politischen Umbrüche mit zunehmender ethnisch motivierter Gewalt auf beiden Seiten: Vertreibungen, Vergewaltigungen, kleinere gewaltsame Zusammenstöße bis hin zu großen Pogromen und ethnischen Säuberungen mit Hunderten Toten. Zwischen 1991 und 1994 ging der Konflikt in einen umfassenden Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan über, der zwischen 20.000 und 30.000 Todesopfer und über eine Million Geflüchtete verursachte. Mit diesem Ersten Bergkarabach-Krieg verhärteten sich die Gräben zwischen der armenischen und der aserbaidschanischen Seite. Durch die hohen Opferzahlen gab es nunmehr kaum Menschen in den beiden Ländern oder in Bergkarabach, die nicht selbst oder durch ihr unmittelbares soziales Umfeld von Gewalterfahrungen betroffen waren. Zudem führten Flucht, Vertreibung und ethnische Säuberungen zu einer rigorosen räumlichen (und gefühlten) Trennung zwischen der armenischen und der aserbaidschanischen Bevölkerung. Dieser Mangel an jeglichem Kontakt zur Gegenseite kann heute als ein zentrales Hindernis auf dem Weg zu einer nachhaltigen Friedenslösung angesehen werden.

Die Geschichte spielt im Konflikt um Bergkarabach eine schwierige Rolle. Einerseits ist ihre Kenntnis und ihr Verständnis für die kollektiven Erfahrungen der armenischen, aserbaidschanischen und karabachischen Bevölkerung über die Jahrzehnte unerlässlich, um kontextsensible und damit gesellschaftlich akzeptierte Lösungsansätze zu erarbeiten. Jedoch wird die Geschichte von beiden Seiten häufig auch politisch instrumentalisiert, ideologisch aufgeladen und verabsolutiert. Dies erschwert Kompromisse und verstellt den Blick auf heutige Herausforderungen und Zielsetzungen.

Vom Lokalen zum Globalen: Dimensionen des Bergkarabach-Konflikts

Wie viele ethno-territoriale Konflikte zeichnet sich der Bergkarabach-Konflikt durch eine komplexe Struktur aus, die im Wesentlichen in drei Ebenen unterteilt werden kann. Auf substaatlicher Ebene besteht ein Interesse der in der Region Bergkarabach lebenden armenischen Bevölkerung an einer Unabhängigkeit von Aserbaidschan, da nur so die eigene Sicherheit garantiert werden könne. Hierbei erhält der Konflikt auch eine starke ideologische Aufladung, etwa als Bezug zum nationalen Trauma des Genozids an den Armeniern von 1915 oder des Pogroms von Schuscha. Seit der Unabhängigkeitserklärung von 1991 hat Bergkarabach eine ganze Reihe quasistaatlicher Strukturen aufgebaut, so dass trotz fehlender völkerrechtlicher Anerkennung von einem De-facto-Staat gesprochen werden kann. So wurden mehrfach Wahlen sowie Verfassungsreferenden abgehalten. Darüber hinaus gibt es ein Parlament, das Amt des Präsidenten und eigene Streitkräfte. Es bestehen auch auswärtige Beziehungen mit Büros unter anderem in Deutschland, Russland und den USA. Seit 2017 führt Bergkarabach den offiziellen armenischen Namen Republik Arzach.

De-Facto-Staat Bergkarabach

Im postsowjetischen Raum entstanden nach dem Ende der Sowjetunion mehrere De-Facto-Staaten. Diese Regime verfügen über eine bestehende, dauerhafte hoheitsförmige Gewalt und über eine Stabilität, die einem Staat gleichkommt, sie werden jedoch international nicht als Staaten anerkannt, da sie völkerrechtlich Teil eines anderen Staates sind.

So entstand nach der Unabhängigkeitserklärung von 1991 auch der De-Facto-Staat Bergkarabach unter dem „Mutterstaat“ Aserbaidschan. Nach dem Aufbau staatlicher Strukturen wurden mehrfach auch Wahlen und Verfassungsreferenden abgehalten. Es gibt somit ein Parlament, das Amt des Präsidenten und eigene Streitkräfte. Ferner bestehen auswärtige Beziehungen mit Büros unter anderem in Deutschland, Russland und den USA.

Auf staatlicher Ebene stehen sich Armenien und Aserbaidschan gegenüber. Lange Zeit war Jerewan militärisch deutlich überlegen – vor allem durch die Unterstützung Russlands in Form von Waffenlieferungen, einer direkten Stationierung von Streitkräften auf armenischem Territorium sowie der gemeinsamen Mitgliedschaft in der Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit (OVKS). Auf diese Weise konnte Armenien den Krieg in den 1990er Jahren deutlich für sich entscheiden und die Region Bergkarabach und die dort lebende armenische Bevölkerung als „Elternstaat“ über viele Jahre absichern. In der letzten Zeit begann sich dieses Kräfteverhältnis jedoch zu wandeln. Die rasante ökonomische Entwicklung im Kontext hoher globaler Energiepreise erlaubte dem Ölstaat Aserbaidschan eine zunehmend unabhängige und selbstbewusste Außenpolitik und Aufrüstung, was das Risiko einer militärischen Eskalation in Bergkarabach deutlich erhöhte. Neben diesen wirtschaftlichen Entwicklungen spielt die Verknüpfung zwischen Außen- und Innenpolitik eine wichtige Rolle. Vor allem für das autoritäre aserbaidschanische Regime sind die Aufrechterhaltung äußerer Bedrohungen, vor denen nur die bestehende Regierung schützen könne, sowie die verbale und auch militärische Stärkedemonstration wichtige Instrumente, um die Unterstützung der Bevölkerung und damit die eigene politische Macht zu sichern.

Schließlich gilt es, auch die regionale bzw. internationale Ebene zu betrachten. Hierbei kommt der Russischen Föderation wie in anderen Konflikten auf der Nachbarregion eine Schlüsselrolle zu. Die jahrelange Unterstützung Armeniens hinderte Moskau nicht daran, auch Waffen an Aserbaidschan zu liefern und an der Seite der USA und Frankreichs im Rahmen der sogenannten „Minsker Gruppe“ der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) eine diplomatische Vermittlerrolle einzunehmen. Diese mehrgleisige Taktik diente in der außenpolitischen Logik Russlands letztlich dazu, sich zumindest in der sogenannten „nahen Nachbarschaft“ zur unverzichtbaren Ordnungsmacht zu machen und gleichzeitig mit globalen Akteuren wie den USA und der EU am Verhandlungstisch zu sitzen. Dies bedeutete wiederum, dass aus russischer Sicht eine Fortführung des Bergkarabach-Konflikts unter Umständen vorteilhafter gewesen sein könnte als eine umfassende Friedenslösung.

Als neuer Akteur tritt nun die Türkei hinzu. Das NATO-Mitglied und langjähriger EU-Beitrittskandidat hat in den letzten zehn Jahren eine zunehmende Abwendung vom Westen vollzogen und stattdessen eine aktivere Rolle in der Region und nach Osten hin angestrebt. Die zuletzt angespannten Beziehungen mit dem ehemaligen Partner Russland veranlassten Ankara wohl, an der Seite Aserbaidschans seinen Einfluss im Südkaukasus – und damit in der sogenannten „Nahen Nachbarschaft“ der Russischen Föderation – anzumelden. Ob daraus auch eine konstruktive Rolle bei der weiteren (friedlichen) Konfliktbearbeitung erwachsen könnte, bleibt aufgrund der stark angespannten politischen Beziehungen zwischen der Türkei und Armenien abzuwarten.

Auch westliche Akteure vermochten es in den letzten Jahrzehnten nicht, eine konstruktive Rolle im Südkaukasus zu spielen. Dies lag zum einen an der niedrigen politischen Dringlichkeit des in der öffentlichen Wahrnehmung wenig bekannten Konflikts, andererseits schlicht an fehlenden Einflusskanälen auf die Regierungen in Jerewan und Baku.

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Friedensbemühungen – Friedensmissionen

Der diplomatische Stillstand der letzten Jahre trug sicherlich dazu bei, dass die aserbaidschanische Regierung zuletzt nur noch in einer militärischen Lösung die Möglichkeit sah, die eigenen Interessen in Bergkarabach durchzusetzen. Ein Blick auf die wechselhafte Geschichte der Friedensbemühungen macht deutlich, dass die Hürden auf dem Weg zu einer Friedenslösung heute nach wie vorgegeben und möglicherweise sogar höher sind als Anfang der 1990er Jahre.

Vom Ersten Krieg zum Waffenstillstand
Alle vier bis heute verabschiedete Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen zur Frage des Bergkarabach-Konflikts (#822, #853, #874, #884) stammen aus dem Jahr 1993, also aus der Hochphase der bewaffneten Auseinandersetzung. Sie forderten die Konfliktparteien auf, die Kampfhandlungen unverzüglich einzustellen und im Sinne der betroffenen Bevölkerung ungehinderten Zugang für internationale Hilfsmaßnahmen zu gewährleisten. Für die späteren Verhandlungen bedeutsam ist die Aufforderung an Armenien, die „okkupierten Gebiete“ auf aserbaidschanischem Staatsterritorium zu räumen. Im strikt völkerrechtlichen Sinne sprachen die Vereinten Nationen somit Aserbaidschan mit der Forderung Recht zu, zumindest weite Teile der von Armenien gehaltenen Gebiete zurückzuerhalten. Weiterhin übergab der Sicherheitsrat die Verantwortung für die notwendigen Friedensverhandlungen an die Regionalorganisation OSZE.

Zunächst standen für diese die Einhegung der Gewalt und die Schließung eines Waffenstillstandsabkommens im Vordergrund. Mithilfe einer Strategie der sogenannten Pendeldiplomatie – also vermittelte Verhandlungen ohne direkten Kontakt zwischen den Konfliktpartien – gelang es, die Interessen, Bedürfnisse und Positionen der armenischen und aserbaidschanischen Seite auszuloten. Anfang Mai 1994 endete der Erste Bergkarabach-Krieg offizielle mit dem in der kirgisischen Hauptstadt unter russischer Vermittlung unterzeichneten Bischkek-Protokoll. Die ab dem 12. Mai 1994 geltende, aber brüchige Waffenruhe sollte im nächsten Schritt gefestigt und zu einer Grundlage für weitere politische Verhandlungen genutzt werden. Ein mögliches Instrument war dabei die Stationierung einer Friedensmission, die die Einhaltung der Vereinbarung zwischen Armenien und Aserbaidschan überwachen und sichern könnte. Schon das Bischkek-Protokoll sah die Stationierung einer 1.800 Personen starken russischen Friedenstruppe vor. Dieser Versuch scheiterte jedoch am mangelnden Willen der Konfliktparteien, ebenso wie der nächste Anlauf. Auf dem OSZE-Gipfel in Budapest im Dezember 1994 vereinbarten die Mitgliedstaaten, eine bis zu 5.000 Personen starke multinationale OSZE-Friedenstruppe in Bergkarabach zu stationieren und somit den erreichten Waffenstillstand abzusichern. Hierfür wurde eine hochrangige militärische Planungsgruppe (High Level Planning Group, HLPG) ins Leben gerufen, die die Einsatzkonzeption für die Friedensmission vorbereiten sollte. Auch diese OSZE-Friedenstruppe kam nie zustande, zum einen aufgrund der mangelnden Zustimmung der Konfliktparteien zu einer Intervention, aber auch aufgrund der zunehmenden Spannungen zwischen Russland auf der einen und der westlichen OSZE-Mitglieder auf der anderen Seite.

Friedensprozess im Rahmen der OSZE
Dennoch bleibt die OSZE bis heute das zentrale internationale Forum für eine Vermittlung im Bergkarabach-Konflikt. Bereits im Jahr 1992 hatte die Organisation (bzw. ihre Vorgängerorganisation KSZE, Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) eine Friedenskonferenz zu Bergkarabach organisiert. Dort wurde unter anderem die sogenannte Minsk-Gruppe mit 13 Mitgliedsstaaten ins Leben gerufen, die fortan offiziell die Vermittlung zwischen Armenien und Aserbaidschan übernahm. 1997 wurden drei Länder – die USA, Russland und Frankreich – als sogenannte Co-Vorsitzende der Minsk-Gruppe mit der Vermittlungsfunktion betraut. Im Laufe der gesamten Verhandlungen versuchte die OSZE/Minsk-Gruppe einen Friedensprozess in Bergkarabach durch verschiedene Lösungsstrategien („Paketlösung“, „Mehrstufenlösung“ „Madrider Prinzipien“) zu forcieren, jedoch ohne Erfolg.

Zivile Beobachtermission der Europäischen Union
Die Europäische Union hat Ende Januar 2023 bei einem Treffen auf Ebene der Außenminister:innen beschlossen, eine zivile Beobachtermission in Armenien aufzubauen, um Stabilität in die Region zu bringen. Dem vorausgegangen war ein Ersuchen des armenischen Außenministers an die EU, im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) eine zivile Mission nach Armenien zu entsenden. Aus dem Umfeld des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell heißt es, es sollen 100 Männer und Frauen nach Armenien in die Grenzregion Bergkarabach entsendet werden. Vorgesehen seien unter anderem routinemäßige Patrouillen an der Grenze mit dem Ziel, die Lage vor Ort besser zu verstehen, hieß es in einer Mitteilung des Europäischen Rats. Das strategische Ziel bestehe darin, einen Beitrag zur Verringerung der Zahl der Zwischenfälle in dem Konflikt- und Grenzgebiet zu leisten, heißt es in dem Mandat, das zunächst auf zwei Jahre angelegt ist.  Zudem gehe es darum, das Risiko für die dort lebende Bevölkerung zu verringern und damit zur Normalisierung der Beziehungen zwischen Armenien und Aserbaidschan beizutragen.

Die zentralen Themen der Verhandlungen im Bergkarabach-Konflikt

  • Die Frage nach dem Status von Bergkarabach gehört zum Kernpunkt der Verhandlungen. Armenien plädiert für eine völkerrechtliche Anerkennung von Bergkarabach als unabhängiger Staat, während Aserbaidschan auf dem völkerrechtlichen Prinzip territorialer Integrität besteht.
  • Aserbaidschan forderte einen sofortigen, vollständigen und bedingungslosen Abzug von armenischen und karabachischen Streitkräfte aus den sieben besetzen Gebieten Aserbaidschans und ihre Rückgabe an Aserbaidschan.
  • Der Status der zwei aserbaidschanischen Gebiete Latschin-Korridor und Schuscha.
  • Rückkehr der armenischen und aserbaidschanischen Binnenvertriebenen in Bergkarabach. Eine besondere Herausforderung für die beiden Konfliktparteien blieb und bleibt immer noch die hohe Zahl an Binnenflüchtlinge.
  • Waffenstillstand und Demilitarisierung der „Konfliktlinie“ zwischen Aserbaidschan und Bergkarabach,

 

Stagnation des Friedensprozesses und Weg in die militärische Eskalation
Mit dem wiederholten Scheitern der Verhandlungsinitiativen im Rahmen der OSZE geriet der Friedensprozess in den 2010er Jahren endgültig ins Stocken. Die Konfliktparteien ließen weder den Glauben daran noch die Bereitschaft dazu erkennen, den Verhandlungen eine neue Dynamik zu verleihen. Stattdessen dominierte eine aggressive, von Feindbildern und gegenseitigem Misstrauen geprägte Rhetorik. Immer wieder kam es an der Kontaktlinie auch zu kleineren gewaltsamen Zusammenstößen oder einzelnen Todesopfern unter der Zivilbevölkerung, so dass der vermeintlich „eingefrorene“ Konflikt stets virulent blieb und eine ständige Bedrohung und Belastung für die betroffenen Bevölkerungen darstellte. Bergkarabach arbeitete während dieser Zeit an der faktischen Unabhängigkeit von Aserbaidschan, wodurch der völkerrechtlich ungeklärte Status quo zementiert wurde und sich der Konflikt vor allem aus aserbaidschanischer Sicht weiter zuspitzte. Für die westlichen Vermittler und Russland dagegen stand der Bergkarabach-Konflikt weit unten auf der politischen Agenda, so dass keine ernsten Vermittlungsbemühungen oder neue Initiativen zu verzeichnen waren.

Im April 2016 entlud sich diese unglückliche Konstellation in der größten militärischen Eskalation zwischen Armenien und Aserbaidschan seit 1994, die auch als Vier-Tage-Krieg bezeichnet wird. Schätzungen zufolge forderte der kurze Krieg etwa 350 militärische und zivile Todesopfer. Zudem kam es zum ersten Mal seit dem Waffenstillstandsabkommen von 1994 zu einer Verschiebung der Kontaktlinie, da Aserbaidschan einige strategisch wichtige Stellungen auf völkerrechtlich gesehen eigenem Staatsgebiet zurückerobern konnte.

Die friedliche Revolution in Armenien im Frühjahr 2018 und der Amtsantritt der neuen Regierung unter Nikol Paschinjan eröffneten die Chance auf eine positivere Dynamik im Bergkarabach-Konflikt. Immerhin hatte der Krieg von 2016 die Kosten der seit Jahrzehnten ungelösten Situation noch einmal deutlich vor Augen geführt. Im Wahlkampf und bei seinem Amtsantritt kündigte Paschinjan auch an, neue Verhandlungen mit der aserbaidschanischen Seite aufnehmen zu wollen. Jedoch bewegte sich dieses angedachte Verhandlungsangebot in sehr engen Grenzen, die innenpolitisch durch die über Jahre gefestigten Narrative und „Roten Linien“ gegeben waren. Der (auch militärische) Schutz Bergkarabachs war für Armenien unverhandelbar und jegliche Konzessionen an den „Feind“ Aserbaidschan kaum hinnehmbar – und auch nicht gewollt. Baku hatte aus dem Aprilkrieg dagegen die Lehre gezogen, dass man militärisch nun durchaus in der Lage war, sich gegen Armenien durchzusetzen und auch Territorium zu erobern. Verbunden mit der Frustration mit den jahrelangen Versuchen, den Abzug armenischer Truppen auf diplomatischem Wege zu erreichen, resultierte diese Erfahrung in einer gefährlichen Lage, in der ein militärisches Vorgehen Aserbaidschan zunehmend wahrscheinlich war.

Das Scheitern des Friedensprozesses kann auf mehrere Ursachen zurückgeführt werden. Zum einen konnte in den wichtigsten Streitpunkten und großen politischen Themen – völkerrechtlicher Status von Bergkarabach, Rückzug des armenischen Militärs aus den besetzten Provinzen und die Rückkehr der aserbaidschanischen Binnengeflüchteten dorthin – kein Kompromiss erreicht werden bzw. haben die beteiligten Konfliktparteien keinerlei Kompromissbereitschaft gezeigt. Die geringe internationale Aufmerksamkeit für den vergleichsweise kleinen, lokal begrenzten Konflikt führte dazu, dass die beteiligten Vermittler wie die Co-Vorsitzenden der Minsk-Gruppe USA, Russische Föderation und Frankreich kaum ernstlich auf einen Kompromiss hinwirkten. Ein mögliches Instrument wären etwa umfassende ökonomische Unterstützung oder Kooperationsangebote, zum Beispiel mit der wirtschaftlich attraktiven EU, gewesen – im Austausch für Konzessionen seitens der Konfliktparteien.

Als Gegenstück zu diesen Anreizen fehlte es der OSZE auch an Möglichkeiten, Verstöße wirksam zu ahnden. Zwar leisteten die Missionen und Beobachter der OSZE einen wichtigen Beitrag dazu, etwa Brüche der Waffenruhe an den Kontaktlinien zu dokumentieren und transparent zu machen. Dies blieb allerdings folgenlos, da die OSZE ihrer Organisationsstruktur und -ordnung keine Möglichkeit hat, etwa Strafen gegen die Mitgliedsstaaten zu verhängen. Schließlich muss noch ergänzt werden, dass das Verhandlungsformat seiner Struktur eher nicht geeignet war und ist, um dauerhaften Frieden in der Region zu schaffen. Dies gelingt immer dann gut, wenn sich Abkommen auf eine breite gesellschaftliche Unterstützung stützen können. Die Verhandlungen zu Bergkarabach beschränkten sich dagegen von Beginn an auf Kontakte auf höchster politischer und militärischer Ebene, ohne Beteiligung der betroffenen Gesellschaften. Durch geschlossene Grenzen und eine nahezu vollkommene politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Isolation zwischen Armenien und Aserbaidschan fand ein zivilgesellschaftlicher Dialog nicht statt. Das mangelnde Vertrauen zwischen den Gesellschaften ist mit Sicherheit als einer der wesentlichen Gründe für das Scheitern der Diplomatie zu verstehen.

Bergkarabach-Konflikt 2021 - 2023

Bereits der Krieg im Herbst 2020 hatte neue militärisch Fakten im Bergkarabach-Konflikt geschaffen, indem er die Positionen der beteiligten Akteure gänzlich veränderte. Dazu gehörte vor allem die Rückeroberung bzw. Rückgabe aller umstrittener Gebiete außerhalb Bergkarabachs durch Aserbaidschan. Auch die russische Militär- oder Friedensmission trug zu einer veränderten Konstellation im Südkaukasus bei. Ihre Rolle war unklar. Einerseits hatte sie die Region Bergkarabach abgesichert, so dass beispielsweise die Rückkehr armenischer Geflüchteter dorthin gut funktioniert hatte. Andererseits hatten die russischen Truppen wiederholt Brüche der Waffenruhe durch Aserbaidschan im ersten Jahr nach Ende des Krieges weder verhindert noch irgendwie geahndet.

Ein weiterer Grund für eine neue Realität in der Region, wenn nicht gar in der ganzen Welt, stellt der seit dem 24. Februar 2022 laufende russische Angriffskrieg gegen die Ukraine dar. Der Krieg in der Ukraine hatte die internationale Aufmerksamkeit sowie alle politischen und wirtschaftlichen Ressourcen gebunden, was einen Neustart der Friedensverhandlungen in Bergkarabach unwahrscheinlich erscheinen ließ. Unklar ist auch die künftige Rolle der russischen Friedenstruppe. Je nachdem, wie schnell die wirtschaftlichen Ressourcen Russlands unter den internationalen Sanktionen schwinden und wie sich die militärische Lage in der Ukraine entwickelt, könnte ihre Beibehaltung zu einer großen Herausforderung werden bzw. von Moskau nicht mehr gewollt sein. Im Laufe des Krieges in der Ukraine stieg die Gefahr, dass Aserbaidschan weitere militärische Schritte unternimmt, solange die internationale Aufmerksamkeit woanders liegt, Russlands Kräfte sich auf die Ukraine konzentrieren und Putins Interessen nunmehr eher in Richtung guter Beziehungen zu Aserbaidschan und auch zur Türkei gehen. Obwohl bislang Armenien unterstützend, hat Russland in den sich jüngst zusehends anschwelenden Konflikt in Bergkarabach nicht eingegriffen. „Mit Russlands Schwächung sehen wir eben jetzt, dass Aserbaidschan deutlich selbstbewusster geworden ist”, erklärt auch Marcel Röthig von der Friedrich-Ebert-Stiftung.

Mit der erneuten Offensive Aserbaidschans zur Rückeroberung der Bergkarabach-Region im September 2023, hat Aserbaidschan nun neue Tatsachen geschaffen. Man habe mit der Militäroperation die Herrschaft über das Gebiet im Südkaukasus wiederhergestellt und den Konflikt beendet, so Aserbaidschans Präsident Aliyev. Aserbaidschan hat seine seit 2020 kommunizierten Interessen in der Region schließlich durchgesetzt. Bergkarabach soll laut einer Vereinbarung mit dem armenischen Präsidenten Shahramanyan zum 1. Januar 2024 aufgelöst werden.

Forderungen Aserbaidschans nach 2020

Unzufrieden mit Status Quo machte Aserbaidschan seit Jahren seinen Anspruch auf das ganze armenisch besiedelte Bergkarabach geltend, die Territorialgewinne 2020 gingen der Regierung in Baku nicht weit genug. Demnach sollten sich die dort lebenden Armenier unter Kontrolle der aserbaidschanischen Führung begeben. Aserbaidschan gibt an, ihnen dann die selben Rechte wie allen anderen Bürger zugestehen zu wollen. Bislang jedoch lief es stets auf eine Flucht der dort lebenden Armenier hinaus, sobald ein Gebiet aufgegeben wurde. Auch in der aktuellen Situation könnte den ohnehin seit Monaten unter der jüngsten Blockade Aserbaidschans leidenden armenischen Bevölkerung in der Region eine Vertreibung drohen.

Aserbaidschan setzte in den vergangenen Jahren alles daran, die verbliebene armenisch-stämmige Bevölkerung und die politische Führung des Rumpfgebiets zu zermürben. So haben sich die Attacken Aserbaidschans bislang hauptsächlich auf Regionen in und um Karabach gerichtet. Mit den Angriffen seit 2021 nahm Baku auch Ortschaften außerhalb Bergkarabachs ins Visier, die sich entlang des Grenzverlaufs auf Seiten Armeniens befinden. Aserbaidschan Ansinnen ist es, die Regierung Armeniens weiter in Bedrängnis bringen, um letztendlich seine Forderungen durchsetzen zu können. Dabei geht es nicht nur um den Anspruch auf die gesamte Bergkarabach-Region und um Korrekturen von Grenzverläufen, sondern auch um die Zustimmung Armeniens zu einer quer durch die (sich weitgehend in Armenien befindlichen) Region Sangesur verlaufenden Verbindungsstraße nach Nachitschewan, einem für Aserbaidschan wichtigen Transportkorridor.

Auseinandersetzungen um Grenzverlauf und Bergkarabach-Regionen 2021

Anzeichen dafür zeigten die erneuten Auseinandersetzungen seit 2021. So war es bereits im Juni 2021 zu einem erneuten gefährlichen Grenzstreit gekommen. Nach armenischen Angaben drangen Gruppen aserbaidschanischer Soldaten in die südarmenischen Regionen Sjunik und Gegharkunik vor. Im November des Jahres mündete der Streit erneut in einer Vereinbarung zur Waffenruhe. Doch bereits im Frühjahr 2022 ließen sich abermals größere Brüche des Waffenstillstands durch das aserbaidschanische Militär erkennen. Wenige Monate später kam es im August 2022 wiederholt zu Auseinandersetzungen. Die aserbaidschanische Armee hatte mehrere Höhenzüge in der Region Bergkarabach erobert. es gab Todesopfer und Verletzte auf beiden Seiten.

Auseinandersetzungen in Grenzregionen in Sjunik 2022

Im September 2022 kam es ferner zu gewaltsamen Zusammenstößen außerhalb der Region Bergkarabach. Dieses Mal war die Grenzregion Sjunik im Süden Armeniens Ort des Geschehens. Nahe der Städte Goris, Sotk und Dschermuk  kam es zu mehreren Attacken. Armenien warf Aserbaidschan vor, armenische Stelllungen angegriffen zu haben. Aserbaidschanische Streitkräfte sollen demnach versucht haben, auf das Staatsgebiet Armeniens vorzudringen. Aserbaidschan hingegen sprach von einem armenischem Sabotageversuch, der die Kämpfe ausgelöst habe und warf Armenien „großangelegte subversive Handlungen“ in Grenznähe und den Beschuss seiner Militärstellungen vor. Auf beiden Seiten gab es Tote und Verwundete. Armenien zufolge sollen über 100 Soldaten getötet worden sein. Das Verteidigungsministerium in Baku teilte seinerseits mit, über 70 aserbaidschanische Soldaten seien durch „Provokationen“ Armeniens zu „Märtyrern“ geworden.

Armeniens Regierungschef Nikol Paschinjan hatte sich an Präsident Wladimir Putin gewandt. Das als Schutzmacht Armeniens geltende Russland hat dort derzeit noch eine 2.000 Mann starke Friedenstruppe zur Sicherung des Waffenstillstandsabkommens stationiert. Paschinjan wandte sich auch an die USA und Frankreich. In Telefonaten mit US-Außenminister Antony Blinken und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bat er um eine „angemessene Reaktion der internationalen Gemeinschaft" auf das Vorgehen Aserbaidschans. Moskau sei „extrem besorgt" über die Lage im Grenzgebiet, erklärte das Außenministerium. Auch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) hat das sofortige Ende der militärischen Eskalation zwischen Armenien und Aserbaidschan gefordert. Ebenso wie UN-Generalsekretär António Guterres und EU-Ratschef Charles Michel, der zu diplomatischen Lösungen aufforderte. 
Die Kampfhandlungen hatten sich indes fortgesetzt, eine kurzfristig von Russland initiierte Feuerpause wurde kurz nach Inkrafttreten bereits wieder gebrochen. Nach zweitägigen Kämpfen hatten sich Armenien und Aserbaidschan unter Teilnahme der internationalen Gemeinschaft Mitte September 2022 abermals auf eine Waffenruhe geeinigt. Der Beschuss sei abgeflaut, teilte das armenische Verteidigungsministerium Folge mit.

Zivile EU-Mission 2023

Indes haben Armenien und Aserbaidschan einer zivilen EU-Mission zugestimmt, die im Grenzstreit zwischen beiden Ländern vermitteln und zur Stabilität in der Region beitragen soll.

Aserbaidschan blockiert Region Bergkarabach

Die Situation für die in der Region Bergkarabach lebende armenische Bevölkerung wurde im Verlauf des Jahres immer prekärer. Sie dort lebende armenische Bevölkerung leidet unter der von der Regierung in Aserbaidschan eingeführten Blockade, welche Lieferungen über die einzige Versorgungsroute zwischen Bergkarabach und Armenien, den Latschin-Korridor, verhinderte. Lebensmittel und Produkte des täglichen Bedarfs werden immer knapper, es fehlt inzwischen an fast allem. Zwischenzeitlich schien es Aussicht auf Besserung zu geben. Unter maßgeblicher Vermittlung des Internationalen Roten Kreuzes kam es Angang September 2023 zu einer Einigung über die Wiederaufnahme von Hilfslieferungen.

Aserbaidschans Militäroffensive auf die Region im September 2023

Am 20. September 2023 startete Aserbaidschan eine Offensive mit dem Ziel, die Autonomie der von Armeniern bewohnten Region zu beenden und die vollständige Kontrolle über das Gebiet zu erreichen. Nach örtlichen Angaben hat der Angriff mehr als 200 Menschen in der betroffenen Region Bergkarabach das Leben gekostet. Einen Tag nach dem Beginn des aserbaidschanischen Militäreinsatzes ist in der Konfliktregion unter Vermittlung Russlands eine Feuerpause vereinbart worden. Die Behörden der Region Bergkarabach hätten einen entsprechenden Vorschlag von russischer Seite angenommen. Sie stimmten demnach der Forderung zu, die Kämpfe zu beenden. „In der aktuellen Situation sind die Maßnahmen der internationalen Gemeinschaft zur Beendigung des Kriegs und zur Lösung der Situation unzureichend”, zitierten Medien aus einer Behördenmitteilung. „Unter Berücksichtigung dessen akzeptieren die Behörden der Republik Arzach den Vorschlag des Kommandos des russischen Friedenskontingents bezüglich eines Waffenstillstands.” Die Einigung umfasst den Berichten zufolge den Abzug von verbliebenen armenischen Militäreinheiten und militärischer Ausrüstung aus Bergkarabach sowie die Entwaffnung lokaler Verteidigungskräfte. Den armenischen Kämpfern werde die Möglichkeit gegeben, ihre Positionen zu verlassen und sich zu ergeben. Zudem sollen diese offenbar Verhandlungen mit der Regierung in Baku über die Integration der Region in Aserbaidschan zugestimmt haben. Sein Land sei jedoch nicht an der Ausarbeitung der Vereinbarung über die Feuerpause beteiligt gewesen sei, man  habe die Entscheidung der Verantwortlichen in Bergkarabach jedoch zur Kenntnis genommen, so Armeniens Ministerpräsident Nikol Paschiny.

Aserbaidschan erklärt den Sieg über Armenien im Bergkarabach-Konflikt

Kurz nach dem vereinbarten Waffenstillstand hat Aserbaidschan am 21. September 2023 den militärischen Sieg über Armenien im Berg-Karabach-Konflikt erklärt. Der militärische Einsatz sei beendet, man habe in einer eintägigen Militäroperation die Herrschaft über das Gebiet im Südkaukasus wiederhergestellt, so Präsident Aliyev in einer Fernsehansprache. Vertreter der aserbaidschanischen Regierung und der Berg-Karabach-Armenier würden sich nun zu Gesprächen treffen, in denen es um die Wiedereingliederung der Enklave in den aserbaidschanischen Staat gehe. Die Vereinten Nationen haben angesichts der Eskalation eine Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrats einberufen. Während Armenien dort von „ethnischen Säuberungen” durch die Truppen sprach, bezeichnete Aserbaidschan sein Vorgehen als „Anti-Terror-Maßnahme”.

Armenische Bevölkerung Bergkarabachs flieht nach Armenien

Die Vereinten Nationen mahnten in der Sicherheitsratssitzung einen „echten Dialog zwischen der Regierung Aserbaidschans und Vertretern der Region” an. Oberste Priorität habe der Schutz der Zivilbevölkerung. Armenien fordert eine UN-Mission zur Sicherung der armenischen Bevölkerung  Die Vereinten Nationen müssten unverzüglich Truppen entsenden, um die „Menschenrechts- und Sicherheitslage vor Ort zu überwachen und zu bewerten”, sagte der armenische Außenminister Ararat Mirsojan in New York.  Den in der Region verbliebenen 120.000 armenischen Bewohner Bergkarabachs drohe, aus ihrer Heimat vertrieben zu werden, oder, sofern sie bleiben, zum Ziel aserbaidschanischer Gewalt zu werden. Osteuropaexperte Stefan Meister sah nach Beginn der Offensive Aserbidschans keine Zukunft mehr für Armenier in Bergkarabach. Er gehe von einem völligen Exodus von Armeniern aus der Region aus, es gebe starke Rachegefühle auf aserbaidschanischer Seite, kein Armenier sei in dem Gebiet mehr sicher. Tatsächlich hat bereits wenige Tage nach dem aserbaidschanischen Militäreinsatz eine Massenflucht eingesetzt. Mittlerweile haben alle armenischen Bewohner die Region Bergkarabach verlassen und in Armenien Zufluicht gesucht. Die UN-Mission ist in der nahezu menschenleeren Region eingetroffen..

Bergkarabach soll zum 1. Januar 2024 aufgelöst werden

Ende September unterzeichnete Armeniens Präsident Shahramanyan ein Dekret, welche die Auflösung der selbsterklärten armenischen Republik Bergkarabach zum 1. Januar 2024 vorsieht. Es sei eine Vereinbarung zur Beendigung der Kämpfe getroffen worden, im Gegenzug für die Entwaffnung der armenischen Truppen Bergkarabachs.lasse Aserbaidschan die freie und ungehinderte Bewegung der Bewohner der Region zu.

Der Südkaukasus-Experte Stephan Malerius befürchtet gar, dass auf den Exodus aus Bergkarabach und der Auflösung der Region ein aserbaidschanischer Angriff auf Armenien folgen könnte.

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Aserbaidschan, Berkarabach: Ein letzter Angriff? | Mit offenen Karten - Im Fokus | ARTE

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Autoren: Vera Rogova und Tengiz Dalalishvili. Aufbereitung für das Netz: Internetredaktion der LpB BW.


 

Linksammlung

Quellen & weitere Infos

Literaturhinweise

Babajew, Aser/Grusha, Xenija/Rogova, Vera: „Gerechtigkeit“ als Sackgasse oder Ausweg. Konfliktlösungsstrategien für Bergkarabach, in: Osteuropa, Vol. 64 (2014), Nr. 7, S. 105–120.

Center for Security Studies Analysen zur Sicherheitspolitik: Berg-Karabach: Hindernisse für eine Verhandlungslösung. Nr. 131, April 2013, S. 1–4.

Crisis Group: The Nagorno Karabakh Conflict: A Visual Explainer, letzte Aktualisierung: 15.02.2022, online unter: https://www.crisisgroup.org/content/nagorno-karabakh-conflict-visual-explainer.

de Waal, Thomas: Black Garden: Armenia and Azerbaijan through Peace and War, New York 2003.

Dekoder: Wittke, Cindy „Krieg um Bergkarabach“.

Dehdashti-Rasmussen, Rexane: Der Konflikt um Berg-Karabach: Ursachen, Verhandlungsstand und Perspektiven, in: IFSH, OSZE-Jahrbuch 2007, Baden-Baden 2007, S. 209–232.

Fischer, Sabine: Die russische Politik in den ungelösten Konflikten, in: dies. (Hrsg.): Nicht eingefroren! Die ungelösten Konflikte um Transnistrien, Abchasien, Südossetien und Berg-Karabach im Lichte der Krise um die Ukraine, SWP-Studie, Juli 2016, Berlin.

Friedensgutachten 2021, darin: Kapitel 1: Krieg in Osteuropa/Bewaffnete Konflikte, online unter: http://www.friedensgutachten.de/2021/ausgabe.

Grigoryan, Harutyun: Armenisch-russische Beziehungen: Geschichte, Realität und Beweggründe der beiden Partner, in: Russland-Analysen, Nr. 367, 01.03.2019.

Gromes, Thorsten: Does Peacekeeping Only Work in Easy Environments? An Analysis of Conflict Characteristics, Mission Profiles, and Civil War Recurrence, in: Contemporary Security Policy, Vol. 40 (2019), Nr. 4, S. 459–480.

Russland-Analysen. Nr. 394, 20.11.2020 https://www.laender-analysen.de/russland-analysen/394/RusslandAnalysen394.pdf

Schmidt, Hans-Joachim: The Four-Day War Has Diminished the Chances of Peace in Nagorno-Karabakh, in: IFSH, OSCE Yearbook 2016, Baden-Baden 2016, S. 111–123.

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