Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Russland


Zur Lage von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in BelarusPolen, Ungarn, Bulgarien und Rumänien haben wir jeweils eine gesonderte Analyse erstellt.


Seit 2000 ist Vladimir Putin Präsident der Russischen Föderation. Unter seiner Regierung durchlief das Land eine umfassende Transformation. Das System Putin gilt heute als eine Autokratie mit teils deutlichen Einschränkungen freiheitlich-demokratischer Grundrechte (vgl. BTI 2020). Die Ukraine-Krise von 2013/14 und der daraus resultierende Tiefpunkt der russisch-westlichen Beziehungen hatte diesen Trend weiter verschärft, indem das Ziel einer Integration Russlands in europäische Formate der multilateralen Zusammenarbeit und die ihnen zugrundeliegenden Regelvorstellungen von russischer Seite endgültig aufgegeben wurde.

Gleichzeitig bedingte die angespannte Wirtschaftslage der vergangenen Jahre vor dem Hintergrund internationaler Sanktionen, niedriger Energiepreise und seit 2020 der Corona-Pandemie eine schwelende Krise des Legitimitätsmodells des russischen Regimes, das viele Jahre vor allem auf Sicherheit und steigenden Lebensstandards für die russische Bevölkerung beruhte. Proteste in den Metropolen Moskau und Sankt Petersburg, aber auch in vielen Regionen richten sich zwar häufig gegen spezifische Themen wie Umweltverschmutzung oder die Willkür lokaler Behörden, jedoch steht dabei auch immer eine darüber hinausreichende Kritik verknöcherter und korrupter Machtstrukturen im Land im Raum (vgl. Dollbaum 2020). Das russische Regime reagierte auf solche Herausforderungen stets mit Repressionen, was zu einer drastischen Verschlechterung der Menschenrechtssituation und weiteren Einschränkungen bürgerlicher Freiheiten geführt hat.

Im Zuge des von Russland initiierten Krieges gegen die Ukraine verschärfen sich diese Tendenzen massiv. Mit der offensichtlichen Desinformationskampagne über den Krieg in der Ukraine, dem neuen Mediengesetz, das die Verbreitung von „Falschinformationen“ unter hohe Strafen bis zu 15 Jahren Gefängnis stellt, dem harten Vorgehen gegen Anti-Kriegsdemonstrationen im Land, dem Verbot kremlkritischer Medien sowie der Social-Media-Plattformen Facebook und Instagram hat Präsident Putin jegliche Tarnung aufgegeben und sich ganz offen von rechtsstaatlichen Prinzipien abgewandt. Im April 2022 verhängte Russland ferner ein Verbot, welches die Arbeit von 15 ausländischen Organisationen wegen angeblicher „Verstöße gegen die geltende Gesetzgebung der Russischen Föderation” fortan untersagt. Betroffen sind die Menschenrechtsorganisationen Amnesty International und Human Rights Watch sowie neun weitere  Nichtregierungsorganisationen. Auch deutschen Parteistiftungen wird die Arbeit verboten. Die neue Ausweisungswelle von zivilgesellschaftlichen Organisationen sei „ein weiterer Schritt vom Autoritarismus zum Totalitarismus", so der Vorsitzende der Friedrich-Naumann-Stiftung Karl-Heinz Paqué

Auch auf die Einhaltung internationalen Rechts legt er offensichtlich keinen Wert mehr, indem er mit seinem aggressiven Angriffskrieg, der sich zunehmend gegen die ukrainische Zivilbevölkerung richtet, mit jeglichen im Völkerrecht verankerten Konventionen bricht.

Entwicklung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit

Transformation des politischen Systems von Jelzin bis Putin

Für weite Teile der russischen Bevölkerung gelten die 1990er Jahre nicht so sehr als eine Zeit der Demokratisierung und Freiheit, sondern als Krisenjahrzehnt und Phase großer Unsicherheit. Zwar wurde die politisch-ökonomische Ordnung der kommunistisch verfassten und planwirtschaftlich organisierten Sowjetunion durch demokratische und marktwirtschaftliche Strukturen nach westlichem Vorbild abgelöst. Solch umfassende Umbrüche konnten jedoch nicht über Nacht gelingen, was dazu führte, dass der russische Staat mit seinen Organen wie Justizsystem, Polizei und Verwaltung zunächst kaum funktionsfähig war. Zur Wirtschaftskrise und sinkenden Lebensstandards gesellten sich als Folge hohe Kriminalitätsraten, Korruption und behördliche Willkür. Mächtige Partikularinteressen aus der Wirtschaft und der Organisierten Kriminalität, die sogenannten Oligarchen, hatten die russische Regierung fest im Griff.

Vor diesem Hintergrund ist die breite Unterstützung seitens der russischen Bevölkerung zu verstehen, die Vladimir Putin bei seinem Amtsantritt 2000 auf sich vereinen konnte. Sein Wahlprogramm stand vor allem unter der Losung der Stabilität: Wiederherstellung des staatlichen Gewaltmonopols, Beendigung separatistischer Bestrebungen in der Region Nordkaukasus (Tschetschenien) sowie stabiles Wirtschaftswachstum und bessere Lebensbedingungen. In den Folgejahren gelang es Putin und seiner Regierung, viele dieser Versprechen wahrzumachen, wobei dies vor allem steigenden Öl- und Gaspreisen zu verdanken war, von denen Russland als Energieexporteur profitierte. Unter dem Vorwand der Stabilität begann jedoch auch ein Prozess der Autokratisierung, der viele Reformen der post-sowjetischen Transformationsjahre nach und nach umkehrte, die Macht bei der russischen Regierung und vor allem beim Präsidenten konzentrierte und an dessen Endpunkt das autoritäre politische System stand, das als Putinismus (vgl. Taylor 2018) bekannt ist.

Der duale Staat: formaldemokratische Institutionen und informelle Macht

Russland zeichnet sich heute durch ein Nebeneinander formaler Institutionen und informeller Strukturen aus, wobei letztere häufig die tatsächliche Verteilung politischer Macht bestimmen. Der britische Politikwissenschaftler Richard Sakwa spricht in diesem Zusammenhang von einem dualen Staat (dual state, vgl. Sakwa 2010). So besteht laut russischer Verfassung Gewaltenteilung; es gibt ein Parlament, Parteien und Organe der kommunalen Selbstverwaltung; es finden regelmäßige Wahlen statt, die von umfangreichen Wahlkampfaktivitäten begleitet sind und bei denen mehrere Kandidatinnen und Kandidaten um die Wählergunst konkurrieren. Gerichte und ein unabhängiges Verfassungsgericht schützen die Rechte der russischen Bürgerinnen und Bürger, auch gegenüber dem Staat. Auf dem Papier unterscheiden sich das politische System und die Rechtsordnung in Russland kaum von demokratisch verfassten Staaten wie Deutschland.

Jedoch sind viele dieser Institutionen gewissermaßen ausgehöhlt. Beispielsweise erfüllen Wahlen nicht die Funktion, politische Macht auf neue Amtsinhaber zu übertragen, sondern dienen vielmehr der Legitimation des bestehenden Regimes. So stellten die internationalen Wahlbeobachtungsmissionen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) bei allen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen seit Mitte der 2000er Jahre massive Mängel wie die systematische Benachteiligung oppositioneller Kandidatinnen und Kandidaten, Wahlmanipulation und Stimmenkäufe fest.

Andere Institutionen wie die Gerichte erfüllen im Alltagsgeschäft durchaus ihre Aufgabe und haben sich in den letzten Jahren durch Modernisierungsbemühungen, Digitalisierung und Antikorruptionsmaßnahmen sogar zu oftmals gut funktionierenden staatlichen Organen entwickelt. Gleichzeitig existieren rote Linien, jenseits derer die direkte politische Weisung jede Unabhängigkeit der Justiz aufhebt – Schauprozesse gegen Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten und Mitglieder der Opposition zeigen dies immer wieder eindrücklich. Diese roten Linien ergeben sich vor allem aus der Logik des Machterhalts Vladimir Putins und seines Netzwerks enger Verbündeter, an dem auch ihre privaten wirtschaftlichen Interessen hängen; gefolgt von Überlegungen zu Russlands Rolle im internationalen politischen System und Statusambitionen als globale Großmacht neben den USA und China.

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Presse- und Meinungsfreiheit

Die umfassende Kontrolle über das politische Geschehen im Land, auch bekannt als die Machtvertikale, wird unter anderem durch die gezielte Beeinflussung der öffentlichen Meinung sichergestellt, die wiederum auf der Kontrolle über die Medienlandschaft beruht. In der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen belegt Russland 2021 Platz 150 von 180.

Nach wie vor informieren sich viele Menschen in Russland vorrangig über Fernsehen, Radio und Zeitungen, auch wenn die Internetnutzung in den letzten Jahren stetig zugenommen hat – im Januar 2018 gaben 57 Prozent der Bevölkerung an, „praktisch täglich“ online zu sein, 2015 waren es noch 41 Prozent. Die klassischen Massenmedien wurden seit Anfang der 2000er unter staatliche Kontrolle gebracht. Dabei sind alternative Inhalte durchaus toleriert worden, solange sie lediglich ein Nischenpublikum erreichten und keine größeren politischen Ambitionen entwickelten.

Erreichten einzelne Journalistinnen und Journalisten oder Verlagshäuser aber ein zu großes Publikum und nahmen sich Themen an, die zu öffentlichem Unmut gegenüber der Regierung hätten führen können, wurden sie schnell zum Ziel repressiver Maßnahmen. Diese reichten von der Verhaftung und Verurteilung einzelner Medienschaffender über den plötzlichen Verlust von Werbeverträgen und Übertragungsrechten bis hin zum Aufkauf und Umstrukturierung der als politisch gefährlich designierten Sender oder Zeitungen, die zumeist in der Entlassung besonders kritischer Stimmen resultieren (vgl. Lipman 2017).

So erging es etwa der renommierten und für ihre hohen journalistischen Standards geschätzten Zeitung Wedomosti. Im Frühjahr 2020 wurde der Kreml-freundliche Geschäftsmann Iwan Eremin zum neuen Eigentümer, mit ihm kam mit Andrej Schmarov auch ein neuer Chefredakteur. Schmarov, der zuvor die als Kreml-nah geltende Zeitung Expert mitgegründet hatte, geriet schon bald in Konflikt mit der Redaktion, die ihn der Zensur und unlauterer Praktiken in der Redaktion bezichtigte. Der Richtungskampf endete mit dem Rücktritt des Generaldirektors und der Redaktion, der als Zeichen des Protests zwar hohe Wellen in der russischen Medienlandschaft und Zivilgesellschaft schlug, letztlich aber das Ziel der kompletten Ausschaltung kritischer Stimmen bei der Zeitung den Weg ebnete. Auch andere beliebte, unabhängige Medien wie der Fernsehsender Dozhd (Regen) oder das Online-Nachrichtenportal Lenta.ru gerieten in den letzten Jahren zunehmend in Bedrängnis. Lenta.ru operiert seit 2014 unter dem neuen Namen Meduza gewissermaßen vom Exil in Riga aus; im April 2021 ist das Nachrichtenportal der Liste der „Ausländischen Agenten“ hinzugefügt worden, was seine Arbeit weiter einschränkt. Der Fernsehsender Dozhd hat seine Arbeit indessen am 3. März 2022 kurz nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine eingestellt; der Chefredakteur Tichon Dsjadko verließ Russland unmittelbar darauf.

Verschärfte Einschränkung der Presse- und Meinungsfreiheit seit Beginn der russischen Invasion

Im Zuge des sich erneut zuspitzenden Konflikts um die Ukraine mit dem Westen hatte Russland im Februar 2022 dem Auslandssender Deutsche Welle die Lizenz zur Ausstrahlung von Fernsehsendungen auf Englisch, Russisch und Deutsch entzogen. Ferner wurde das Korrespondentenbüro des deutschen Auslandsrundfunks in Moskau geschlossen. Dieser Schritt folgte auf die Entscheidung deutscher Regulierungsbehörden, die tags zuvor dem russischen Auslandssender RT DE die Ausstrahlung jeglichen Programms in Deutschland verboten hatten, mit der Begründung, dass die erforderliche medienrechtliche Zulassung fehle. Eine Zulassung war für den im Dezember 2021 begonnenen Sendebetrieb jedoch nicht beantragt worden, mutmaßlich wegen der eigentlich erforderlichen Staatsferne, welcher der Sender nicht entsprechend nachkommt, so der Vorwurf seit Langem.

Wenige Tage nach Beginn der russischen Invasion in der Ukraine hat Russland Anfang März den populären kremlkritischen  Radiosender Echo Moskwy geschlossen. Der Sender hatte kritisch über Russlands Krieg gegen die Ukraine berichtet. Die Schließung löste breites Entsetzen aus. Für viele Russen, die Propaganda der Staatsmedien ablehnen, ist der Sender die wichtigste Informationsquelle. Bereits seit dem Beginn der russischen Invasion hatten die Behörden den Medien im Land verboten, in der Berichterstattung über den Krieg gegen die Ukraine Begriffe wie „Angriff“, „Invasion“ und „Kriegserklärung“ zu verwenden.

Ende März 2022 gab ein weiteres kritisches Medium in Russland seine Arbeit auf. Die wichtigste unabhängige Zeitung in Russland, die „Nowaja Gaseta”, gab die Entscheidung bekannt, ihr Erscheinen auszusetzen bis der Krieg in der Ukraine vorbei sei.Grund ist nach Angaben der Redaktion eine weitere Verwarnung der russischen Regierung.

Die Einführung eines neuen Mediengesetzes Anfang März 2022 war ein weiterer Schlag gegen die Pressefreiheit in Russland. Das russische Parlament hatte ein Gesetz verabschiedet, das hohe Geldbußen und lange Haftstrafen bis zu 15 Jahren für die Veröffentlichung von „Falschnachrichten” über die russischen Streitkräfte vorsieht. Laut Gesetzestext stehen konkret das Verbreiten vermeintlicher Falschinformationen über russische Soldaten, das Diskreditieren russischer Streitkräfte und auch Aufrufe zu Sanktionen gegen Russland unter Strafe. Moskau bezeichnet den Krieg als militärische „Sonderoperation“.

Einschränkung des Internets

Was das russische Internet anbelangt, galt dieses lange Zeit als ein freier Raum, in dem sich diejenigen, die Zugang dazu hatten – maßgeblich also die jüngere, urbane und gebildete Bevölkerung – unabhängige Informationen verschaffen und sich vernetzen konnten. Bei den großflächigen Protesten rund um die Duma- und Präsidentschaftswahlen 2011/2012 spielten das „Runet“ und die sozialen Medien eine entscheidende Rolle für die Mobilisierung und Organisation der Bewegung. Die russische Regierung ist sich dieses subversiven Potenzials jedoch bewusst und so wurden seit 2012 eine ganze Reihe von Maßnahmen getroffen, um das Internet unter Kontrolle zu bringen. Diese bestehen vor allen Dingen in neuen Gesetzen, die eine rechtliche Handhabe gegen unliebsame Internetseiten, Inhalte oder Personen gewährleisten. So wurde im Sommer 2012 das Föderale Gesetz „Über den Schutz von Kindern vor Informationen, die schädlich für ihre Gesundheit und Entwicklung sind“ geändert und auf dieser Basis eine Schwarze Liste für zu sperrende Internetseiten eingeführt. Ende 2013 folgte ein Anti-Extremismusgesetz, das die Verbreitung extremistischer Inhalte im Netz verhindern soll. Gemeinsam ist diesen Gesetzen, dass die Entscheidung darüber, was als schädlich für Kinder oder extremistisch gilt, allzu oft willkürlich getroffen wird und politisch motiviert ist. Das sogenannte „Jarowaja-Paket“ verpflichtet seit 2016 Mobil- und Internetanbieter zur Speicherung und bei Bedarf zur Weitergabe umfassender persönlicher Daten ihrer Nutzer (vgl. Kharuk/Litvinenko 2016). Ende 2019 folgte ein Gesetz über ein „Souveränes Internet“, das es der russischen Regierung ermöglichen soll, das Land im Extremfall vom restlichen Internet abzukapseln. Inwieweit diese beiden Gesetze technisch implementierbar sind, ist jedoch umstritten.

Eine Woche nach der russischen Invasion in die Ukraine hat Russland angekündigt, die Social-Media-Plattform Facebook im Land sperren zu wollen. Inzwischen sind Facebook und Instagram, deren Mutterkonzern Meta im März 2022 gerichtlich als „extremistisch“ verurteilt wurde, verboten. Außerdem blockiert die russische Medienaufsichtsbehörde Google News.

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Justiz und Verfassung

Sowohl Legislative als auch Judikative sind in die Machtvertikale eingebunden und unterstehen somit der Logik des Machterhalts des bestehenden Regimes. Der Transformationsindex der Bertelsmann-Stiftung (BTI) bewertet die Rechtsstaatlichkeit in der Russischen Föderation 2020 mit 4 von 10 Punkten, wobei das Land beim Kriterium der Gewaltenteilung besonders schlecht abschneidet (3 von 10). Auch im internationalen Rule of Law Index des World Justice Project schneidet Russland mit Rang 94 aus 128 schlecht ab, vor allem bei den Kriterien Schutz vor staatlicher Willkür und Einhaltung der Grundrechte. Hinzu kommt, dass der Justizapparat auch nach einer Reihe von Reformen seit den 1990er Jahren schlicht schlecht funktioniert. Niedrige Gehälter, komplizierte bürokratische Vorgaben und ein Berufungssystem, das Richterinnen und Richter in starke Abhängigkeit von ihren Gerichtspräsidentinnen und -präsidenten und auch politischen Instanzen versetzt – all dies führt zu hoher Korruption sowie langwierigen und kostspieligen Verfahren mit ungewissem Ausgang.

Die russische Verfassung garantiert umfassende Grundrechte und Schutz vor staatlicher Willkür; darüber wacht ein Verfassungsgericht. Darüber hinaus hat sich Russland zu einer ganzen Reihe internationaler Konventionen verpflichtet, beispielsweise durch den Beitritt zum Europarat 1996 und mit der Ratifizierung der Europäischen Menschenrechtskonvention 1998. Damit steht es russischen Bürgerinnen und Bürgern offen, sich mit einer Klage an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zu wenden, wenn sie sich in ihren Grundrechten eingeschränkt sehen. Seit Jahren verfolgt der russische Staat die Strategie, die Urteile des EGMR zwar insofern zu erfüllen, dass Entschädigungszahlungen nahezu ausnahmslos geleistet werden. Gleichzeitig wird die eigentliche Intention der Urteile, nämlich die bestehende diskriminierende Gesetzgebung nachzubessern, gänzlich ignoriert. Diese Praxis ist durch ein Grundsatzurteil des Verfassungsgerichts 2015 auch offiziell festgeschrieben worden, wonach die russische Verfassung Vorrang vor völkerrechtlichen Bestimmungen habe. Dieses Urteil fügt sich in den allgemeinen Trend zur Abschottung ein, der vor allem seit 2014 in Russland zu beobachten ist.

Anfang 2020 kündigte Putin eine Reform der seit 1993 geltenden russischen Verfassung an. Neben dem maßgeblichen Ziel dieses Prozesses, nämlich der Aufhebung von Beschränkungen für die Amtszeit des Präsidenten und damit einer Ermöglichung von Putins erneuter Kandidatur bei der nächsten Wahl 2024, wurden eine Reihe weiterer Bestimmungen aufgenommen. Diese bilden vor allem die wichtigsten ideologischen Linien des russischen Regimes ab. Dazu gehört etwa das Verbot, die Einheit des Territoriums der Russischen Föderation infrage zu stellen – also die Annexion der Krim zu kritisieren –, Schutz der „historischen Wahrheit“, die Festschreibung der Ehe als Bund zwischen Mann und Frau oder ein neu hinzugefügter Verweis auf Gott. Eine unter Corona-Bedingungen abgehaltene Abstimmung unter der russischen Bevölkerung brachte wie erwartet die nötige Legitimation ein, sodass das Parlament im Juli 2020 die Änderungen mit einer Drei-Viertel-Mehrheit annahm. Dazu gehört etwa das Verbot, die Einheit des Territoriums der Russischen Föderation in Frage zu stellen – also die Annexion der Krim zu kritisieren –, Schutz der „historischen Wahrheit“, die Festschreibung der Ehe als Bund zwischen Mann und Frau oder ein neu hinzugefügter Verweis auf Gott. Eine unter Corona-Bedingungen abgehaltene Abstimmung unter der russischen Bevölkerung brachte wie erwartet die nötige Legitimation ein, so dass das Parlament im Juli 2020 die Änderungen mit einer Drei-Viertel-Mehrheit annahm.

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Lage der Opposition und Umgang mit Minderheiten

Die russische Opposition sieht sich einer doppelten Strategie des Regimes gegenüber, die einerseits aus Kooptation oder Einbindung und andererseits aus Repression besteht. So gibt es im Parlament neben der Regierungspartei Einiges Russland durchaus Oppositionsparteien, die sich regierungskritisch äußern und regelmäßig ernstzunehmende Stimmenanteile auf sich vereinen. Dazu gehören etwa die Kommunistische Partei als zweitstärkste Kraft oder das sozialdemokratische Gerechte Russland. Sie können jedoch ihre Oppositionsarbeit vor allem ausüben, da sie sich bei wichtigen Abstimmungen an die Regierungslinie halten und somit keine wirkliche Herausforderung für die politische Agenda des russischen Regimes darstellen. Gleiches gilt für eine vielfältige und hoch aktive Zivilgesellschaft, die Themen wie Umweltschutz, Nachbarschaft und Austausch zwischen Generationen oder medizinische Versorgung und Hospiz erfolgreich und mit staatlichem Segen und Förderung bearbeitet.

Anders stellt sich die Lage bei politischen oder explizit regierungskritischen Themen dar. Hier sind Akteure Repressionen ausgesetzt und werden systematisch in ihrer Arbeit eingeschränkt. In den letzten Jahren ist auch im zivilgesellschaftlichen Bereich ein Trend zur Isolation zu beobachten. So müssen sich beispielsweise Nichtregierungsorganisationen, die finanzielle Unterstützung von internationalen Partnern erhalten, seit 2012 in eine Liste eintragen lassen, die den bewusst diffamierenden Namen „Liste Ausländischer Agenten“ trägt (vgl. Siegert 2014). In den folgenden Jahren wurde diese Gesetzgebung wiederholt verschärft.

Die russische Menschenrechtsorganisation Memorial, die aufgrund ihrer Arbeit und ihres Einsatzes für die Wahrung der Menschenrechte und politische Gefangene in Russland selbst auf der Liste der Ausländischen Agenten steht, zählt aktuell 351 politische Gefangene (Stand April 2021). Die überwiegende Mehrheit ist in der Liste der aus religiösen Gründen Verfolgten geführt (305 Personen). Sie gehören Religionsgemeinschaften an, die der russische Staat als extremistisch eingestuft hat, darunter die Zeugen Jehovas. Die Fälle der Allgemeinen Liste (72 Personen) beziehen sich dagegen mehrheitlich auf politischen Aktivismus, etwa die Organisation von Protesten, die Mitgliedschaft in oppositionellen Netzwerken oder zunehmend auch politische Aktivitäten auf dem Gebiet der annektierten Krim.

Die russische Generalstaatsanwaltschaft beantragte im November 2021 die Auflösung von Memorial. Die NGO ist seit 2016 als „Ausländischer Agent“ registriert, weil sie teilweise aus dem Ausland finanziert wird. In der Anklage wird der NGO vorgeworfen, „systematisch“ gegen das Gesetz über „Ausländische Agenten“ verstoßen zu haben. Russische Gerichte haben im Dezember 2021 mit zwei Urteilen sowohl die Dachorganisation Memorial International als auch das Menschenrechtszentrum aufgelöst. Die russische NGO Memorial hatte sich seit Jahrzehnten für die Einhaltung der Menschenrechte in Russland eingesetzt.

Im April 2022 verhängte Russland ferner ein Verbot, welches die Arbeit von 15 ausländischen Organisationen wegen angeblicher „Verstöße gegen die geltende Gesetzgebung der Russischen Föderation” fortan untersagt. Betroffen sind die Menschenrechtsorganisationen Amnesty International und Human Rights Watch sowie neun weitere  Nichtregierungsorganisationen.

Verhaftungswelle im Zuge der Proteste gegen den Krieg in der Ukraine

Laut der Menschenrechtsorganisation Amnesty International wurden bei Protesten in Russland gegen den Ukraine-Krieg innerhalb von wenigen Tagen  Tausende Menschen festgenommen. Insbesondere die jüngere Generation, die sich über die sozialen Medien über den von Russland verursachten Krieg informieren konnte, ging Ende Februar und Anfang März 2022 auf die Straße, um gegen „Putins Krieg“ zu demonstrieren. Das wird jedoch angesichts der drohenden Verhaftungen, Gefängnis- und Geldstrafen immer schwieriger und ist für den Einzelnen mit hohen Risiken verbunden; die Proteste werden inzwischen brutal niedergeschlagen. Im russischen Staatsfernsehen bekommt die Bevölkerung unterdessen ein völlig anderes Bild von einer sogenannten „militärischen Spezialoperation“ Russlands in der Ukraine präsentiert, das in keiner Weise dem tatsächlichen Geschehen entspricht. Auch diese Zensur und Fehlinformation wird von Amnesty angeprangert.

Der russische Oppositionelle Kara-Mursa wurde im April 2023 in Moskau zu 25 Jahren Haft in einem Straflager verurteilt. Es ist die bisher höchste Haftstrafe gegen einen Regierungskritiker überhaupt. Kara-Mursa sei des Hochverrats und weiterer Vergehen wie der Verunglimpfung des russischen Militärs und der illegalen Arbeit für eine „unerwünschte” Organisation schuldig, urteilte das Gericht. Die Bundesregierung, die EU und die USA kritisierten das Urteil scharf. Jahrelang war Kara-Mursa als Politiker in Opposition zu Präsident Wladimir Putin tätig. Er setzte sich bei ausländischen Regierungen und Institutionen für die Verhängung von Sanktionen gegen Russland und einzelne Russen wegen angeblicher Menschenrechtsverletzungen ein. 2015 und 2017 wurde er Opfer von mutmaßlichen Vergiftungsanschlägen, die er nur knapp überlebte.

Alexej Nawalny

Kein Fall hat in den letzten Jahren mehr Aufmerksamkeit erfahren als der von Alexei Nawalny. Der Oppositionspolitiker und Anti-Korruptionsaktivist gehörte zu den im In- und Ausland bekanntesten Kritikern des russischen Regimes und war in den letzten Jahren immer wieder Repressionen ausgesetzt. Er wurde zu hohen Geldstrafen verurteilt, wiederholt unter Arrest genommen, von der Kandidatur für politische Ämter abgehalten und war 2017 Opfer eines Chemikalienanschlags. Im Sommer 2020 überlebte Nawalny knapp einen Anschlag mit dem Nervenkampfstoff Novichok, für den höchstwahrscheinlich der russische Geheimdienst und somit die Regierung verantwortlich ist. Besonders makaber: Da er zur Behandlung an die Berliner Charité ausgeflogen werden musste – was mit offizieller Zustimmung geschah – und fast einen Monat lang dort im Koma lag, wandelte ein Gericht unmittelbar nach seiner Rückkehr eine anhängige, zur Bewährung ausgesetzte Haftstrafe in 2 Jahre und 8 Monate Lagerhaft um. Nawalny habe gegen Bewährungsauflagen verstoßen, indem er das Land verlassen und mehrere Meldetermine versäumt hatte.

Nach seiner Verhaftung bei seiner Rückkehr nach Russland im Frühjahr 2021 wurde Nawalny in die berüchtigte Strafkolonie östlich von Moskau verlegt. Dort verschlechterte sich sein gesundheitlicher Zustand zusehends, Nawalny war aus Protest gegen mangelnde medizinische Versorgung in einen Hungerstreik getreten. Die Situation war für Nawalny lebensgefährlich. Aber auch für das Regime wäre die Situation zur Gefahr geworden, wäre Nawalny tatsächlich in der Haft verstorben, analysierte damals der Journalist Maxim Kireev. Nach Protesten Tausender Nawalny-Anhänger und auf internationalen Druck wurde Nawanly im Frühjahr 2021 voübergehendin ein ziviles Krankenhaus außerhalb des Straflagers verlegt. Dort beendete Nawalny seinen Hungerstreik. Anschließend wurde er wieder in einem Gefangenenlager untergebracht. Die EU und die USA hatten im März 2021 erneute Sanktionen gegen Russland verhängt, da das Land der Aufforderung nach einer Freilassung Nawalnys nicht nachgekommen war. Die EU setzte dabei erstmals ihren neuen Sanktionsrahmen gegen Menschenrechtsverletzungen ein.

Nawalny symbolisierte für viele Hoffnung – unabhängig davon, dass sein politischer Handlungsspielraum beständig durch fortwährende Verfolgung und Verurteilungen eingeschränkt wurde. Was ihn von anderen Politikern abhob, war aber nicht so sehr sein Programm, sondern vielmehr sein rhetorisches Talent und seine kompromisslose Gegnerschaft zur herrschenden Elite. Vereinfacht gesprochen sah Nawalny die Lösung von Russlands Problemen in der Formel „Elitenwechsel plus Justizreform“. Seine Fixierung auf Korruption als die Wurzel allen Übels, seine nationalistischen Anklänge und auch seine Teilnahme an Wahlen, die dem politischen System Funktionsfähigkeit und damit Legitimität bescheinigte, erregten aber durchaus auch Anstoß in oppositionellen Milieus. Nawalny sei daher nicht der „Oppositionsführer“, als den deutsche und selbst einige russische Medien ihn zuweilen präsentierten, so eine Analyse von Jan Matti Dollbaum  für dekoder.org.

Für die Organisationen Nawalnys wurden die Arbeitsbedingungen indes immer schwieriger. In einem Prozess wurde die Nawalny-Organisationen im Juni 2021 als „extremistisch” eingestuft und somit verboten. Für seinen unermüdlichen Kampf für die Freiheit wurde der Kreml-Kritiker im Dezember 2021 vom Europäischen Parlament mit dem Sacharow-Preis ausgezeichnet. Nawalny befand sich derzeit nach wie vor in der Strafkolonie nahe der Hauptstadt in Haft. Daher hatte seine Tochter den Preis stellvertretend für ihn entgegengenommen. Die internationale Aufmerksamkeit, die Nawalny unter anderem auch mit dieser Ehrung zuteilwurde, sei wahrscheinlich das Einzige, was ihm relativen Schutz, relative Sicherheit bieten könne, so sein Kampagnen-Manager Leonid Wolkow. Wenn diese Aufmerksamkeit nachlasse, wer könne dann sagen, ob sie nicht wieder versuchen würden, ihn zu beseitigen.

Nachdem Nawalny Anfang 2021 zunächst zu zweieinhalb Jahren verurteilt wurde, erging im März 2022 ein Urteil über weitere 9 Jahre Haft. Nawalnys Anwälte sprachen von einem Schauprozess. Die Haftstrafe musste Nawalny in einem Straflager mit besonders harten Strafbedingungen verbringen. In einem früheren Urteil war er bereits wegen Veruntreuung und Missachtung des Gerichts für schuldig befunden worden. Im neuerlichen Urteil hieß es:, „Nawalny hat Betrug begangen – den Diebstahl von fremdem Eigentum durch eine organisierte Gruppe“, so die Richterin bei der Urteilsverkündung. In Bezug auf den Krieg in der Ukraine hatte Nawalny die russische Bevölkerung zu Widerstand und Demonstrationen gegen die russische Invasion aufgerufen. Russland dürfe nicht zu „einer Nation von ängstlichen Schweigern werden“.

Wie russische Medien Mitte Februar 2024 berichteten, ist der russische Oppositionelle Alexej Nawalny nun laut Mitteilung der Gefängnisverwaltung in der Haft verstorben. Der Kremlkritiker war seit 2021 in einer Strafkolonie in der russischen Polarregion untergebracht. Der 47-Jährige habe sich nach einem Spaziergang „unwohl gefühlt” und „fast sofort das Bewusstsein verloren”, hieß es. Es sei medizinisches Personal herbeigerufen worden, das jedoch nicht in der Lage gewesen sei, Nawalny wiederzubeleben. Auch das Team um Nawalny hat wenig später seinen Tod bestätigt. Die Todesursache werde derzeit ermittelt. International ist die Nachricht vom Tod Nawalnys mit Bestürzung aufgenommen worden. Nawalny habe für seinen Mut mit dem Leben bezahlt, so Bundeskanzler Scholz. Der ukrainische Präsident Selenskyj machte Russlands Präsident Putin verantwortlich. 

Die politische Opposition in Russland sei längst zerschlagen, resümierte die Historikerin Irina Scherbakowa bereits vor einigen Jahren in einem Interview im Deutschlandfunk: „Wir leben in einer Diktatur“. Alles werde kontrolliert, keine Opposition zugelassen. Alle wichtigen Entscheidungen würden von einem kleinen Kreis von Menschen um Präsident Vladimir Putin herum getroffen.

Lage von Minderheiten

Auch die Lage von Minderheiten hat sich im Zuge der zunehmend repressiven Politik des russischen Regimes in den vergangenen Jahren weiter verschlechtert, auch wenn hier differenziert werden muss. Einerseits ist Russland ein multiethnischer Staat, auf dessen Territorium über 185 ethnische Gruppen leben. Durch die föderative Ordnung haben viele von ihnen recht umfassende Autonomierechte, etwa in Gestalt der Autonomen Republiken (zum Beispiel das islamisch geprägte Tatarstan) oder des Autonomen Jüdischen Gebiets Birobidschan. Diese Föderationssubjekte sind auf überregionaler Ebene im Föderationsrat, der zweiten Kammer des russischen Parlaments, vertreten. Wie in anderen Bereichen bewegen sich diese regionalen Kompetenzen jedoch im Rahmen der Putinschen Machtvertikale, die der Zentralregierung in Moskau die letzte Entscheidungsgewalt zusichert.

Andere Minderheiten sind noch schlechter aufgestellt. So verbietet ein Gesetz seit 2013 die Verbreitung von „homosexueller Propaganda“, angeblich um Minderjährige zu schützen. In Wirklichkeit kriminalisiert es die sexuelle Selbstbestimmung von LGBT und macht die ohnehin in der russischen Gesellschaft verbreiteten homophoben und transfeindlichen Einstellungen noch weiter salonfähig.

Autorin: Vera Rogova. Aufbereitung und Aktualisierung für das Netz: Internetredaktion der LpB

Quellen und weiterführende Literatur

Dollbaum, Jan Matti (2020): Aktion und Reaktion. Russland: Protestbewegungen im autoritären System, in: Osteuropa 6/2020, S. 109-120.

Kharuk, Irina/Litvinenko, Anna (2016): “Unsichtbare rote Linien“: Internet-Regulierung und ihre Konsequenzen für den Online-Journalismus in Russland, in: Länder-Analysen, Ausgabe 324, 04.11.2016.

Lipman, Maria (2017): Independent Media Live On in Putin’s Russia, in: Russian Analytical Digest, Nr. 197, 23.01.2017.

Sakwa, Richard (2010): The Dual State in Russia, in: Post-Soviet Affairs, Vol. 26, Nr. 3, S. 185-206.

Siegert, Jens (2014): NGOs in Russland, in: Russland-Analysen, Nr. 284, 24.10.2014.

Taylor, Brian D. (2018): The Code of Putinism, Oxford University Press, Oxford.

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