Justiz und Verfassung in Polen

Der Judikative kommt neben Exekutive und Legislative in der Demokratie eine besondere Bedeutung zu. Daher sind Eingriffe in die Judikative auch besonders problematisch. In autoritären Staaten ist die Judikative nicht unabhängig vom Staat und der politischen Macht.

Der Verfassungsgerichtshof, der über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen und internationalen Verträgen urteilt sowie Verfassungsbeschwerden behandelt, nimmt eine sehr wichtige Funktion im polnischen Rechtssystem ein. Daneben kommt auch dem Staatsgerichtshof, der die Handlungen von Politikern und hohen Funktionsträgern auf ihre Vereinbarkeit mit der Verfassung und der Gesetzgebung prüft, besondere Bedeutung zu.

Seit dem Ende des Kommunismus konnten diese beiden Instanzen weitgehend unbehelligt von der politischen Macht ihre Aufgaben wahrnehmen. Zu ernsthaften Konflikten zwischen Exekutive und Legislative kam es jedoch in der ersten Legislaturperiode der PiS-Regierung in den Jahren 2005 bis 2009. So beschloss die Koalition aus der PiS und zwei anderen rechten Parteien das sogenannte „Durchleuchtungsgesetz“. Mit ihm sollten Beamte, Politiker und Journalisten auf frühere Kontakte mit der kommunistischen Staatssicherheit geprüft werden. Falls sie sich weigerten, die geforderten Angaben zu machen, sollte ihre Entlassung erfolgen. Das Gesetz wurde vom Verfassungsgericht als Eingriff in die Menschenrechte für verfassungswidrig erklärt. Auch ein Gesetz, mit dem eine Kommission zur Kontrolle der Tätigkeit der Nationalbank geschaffen werden sollte, wurde vom Verfassungsgericht eingezogen. In der nachfolgenden Regierungszeit der liberal-konservativen PO musste das Verfassungsgericht ebenfalls einige Male Gesetze „kassieren“, auch wenn diese in ihren politischen Intentionen nicht so weit gingen wie die Vorhaben der PiS.

Massiv verschlechtert hat sich das Verhältnis zwischen Exekutive und Legislative allerdings erst mit dem Wiederantritt der PiS-Regierung, die mit einer absoluten Mehrheit im Parlament ausgestattet ist. Der PiS-Vorsitzende Kaczynski hat erklärt, dass für ihn Entscheidungen des Verfassungsgerichtes nicht bindend seien. Ausgangspunkt des Konfliktes war eine von der Regierung geplante Reform des Verfassungsgerichtes. Das Verfassungsgericht sah dadurch seine Arbeit gefährdet, zum Beispiel durch die Bestimmung, dass künftig die Verfassungsrichter nur noch mit einer Zweidrittelmehrheit statt einer einfachen Mehrheit Beschlüsse fällen könnten. Dies würde die Arbeit des Verfassungsgerichtes ebenso behindern wie die Bestimmung, dass das Verfassungsgericht die Fälle in der zeitlichen Reihenfolge ihrer Einreichung und nicht mehr ihrer Bedeutung entsprechend behandeln müsse.

Vertreter der EU und des Europarates sehen in den Justizreformen eine Gefahr für Demokratie und Menschenrechte. Bereits seit 2016 läuft ein EU-Verfahren gegen Polen aufgrund der umstrittenen Justizreform. Die EU wirft der polnischen Regierung eine Missachtung der „Regeln der Demokratie“ vor.

Die EU-Kommission verschärfte im Streit über die polnische Justizreform ihren Kurs gegen die Regierung in Warschau im Zuge der 2018 neu geschaffenen Disziplinarkammer am Obersten Gericht, welche die Aufsicht über alle Richter hat. Vorgesehen ist dabei, dass Richter mit Geldstrafen, Herabstufung oder Entlassung rechnen müssen, wenn sie die Entscheidungskompetenz oder Legalität eines anderen Richters, einer Kammer oder eines Gerichts infrage stellen. Auch dürfen sie sich nicht politisch betätigen. Polen verletze damit EU-Recht, weshalb die EU-Kommission im Oktober 2019 auch erneut ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen gestartet hat.

Im Juli 2021 erging  das Urteil des Europäischen Gerichtshofs, das besagt, dass Polen mit der neuen Disziplinarordnung für Richter „gegen seine Verpflichtungen aus dem Unionsrecht verstoßen hat“. Daraufhin entschied das polnische Verfassungsgericht, dass die Anordnungen des Europäischen Gerichtshofs gegen Polens Justizreformen nicht mit der polnischen Verfassung vereinbar seien. Polen gab an, prüfen zu wollen, ob die nationale Verfassung Vorrang vor EU-Recht hat. Kritiker der Regierung befürchten einen Schritt in Richtung Polexit – also dem Austritt Polens aus der EU.


Informationen über den Europäischen Gerichtshof


Im August 2021 hatte Polen im Streit mit der EU zunächst teilweise eingelenkt. Warschau werde die Disziplinarkammer für Richter abschaffen, zumindest in  ihrer jetzigen Form,  so  Kaczynski,  Chef der regierenden PiS-Partei. Die ersten Änderungsvorschläge zur Justizreform sollten im September vorgelegt werden. Er ließ aber durchblicken, das Ende der Kammer bedeute nicht, dass nicht andere Institutionen zur Richter-Disziplinierung an ihre Stelle treten würden. Es müsse überprüft werden,  ob nationales Recht in Polen vor dem EU-Recht gelten soll. Indessen hat Präsident Duda in einem Gesetzesentwurf vorgeschlagen, die umstrittene Disziplinarkammer aufzulösen bzw. durch ein anderes Gremium mit der Bezeichnung „Kammer für berufliche Verantwortung" mit elf Richtern zu ersetzen. Kritiker halten dies für eine Finte, die in der Sache nicht viel ändere.

Anfang  Oktober 2021 war das polnische Verfassungsgericht zu folgendem Urteil gekommen: Teile des EU-Rechts seien unvereinbar mit der Verfassung Polens. Zwar sei Polen auch weitehin bereit, EU-Regeln zu respektieren, aber nur in von den EU-Verträgen ausdrücklich und direkt abgedeckten Bereichen. Es müsse eine klarer Aufteilung nationaler und europäischer Kompetenzen vorgenommen werden. Polen möchte zwar in der EU verbleiben und von den finanziellen Vorteilen der Gemeinschaft profitieren, möchte sich aber nicht mehr den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs unterwerfen, wenn es um nationale Fragen geht.

Wie verhält sich nationales Recht zu EU-Recht? – Positionen in der Debatte

Es stimme nicht, dass „noch nie“ der Vorrang europäischen Rechts vor nationalem Verfassungsrecht infrage gestellt worden sei. Vielmehr sei der Vorrang europäischen Rechts vor nationalem Verfassungsrecht noch nie vereinbart worden, so der ungarische Journalist Boris Kálnoky. Im Lissabonner Vertrag sei auf eine förmliche Festschreibung des Vorrangs europäischen Rechts vor den nationalen Verfassungen verzichtet worden. Die EU könne nur in jenen Bereichen tätig werden, in denen sie Kraft der EU-Verträge dazu ermächtigt wurden. Dass Entscheidungen des EuGH grundsätzlich Vorrang haben auch vor den Verfassungen der Mitgliedsstaaten, das hätten die EU-Richter in der Folge einfach selbst beschlossen. Im Streit um Polens Justizreform gehe es der EU daher in erster Linie um Machtverteilung  und die Frage, ob die EU ein de facto Staat oder ein Bündnis souveräner Nationalstaaten sein soll. Grundlage der Souveränität eines jeden Staates sei dessen Verfassung, so Kálnoky.

In Polen könne man den systematischen Versuch beobachten, wie das Land in den vergangenen Jahren zum einen die Justiz demontiere und zum anderen neuerdings zudem versuche, diese Demontage auch europarechtsfest zu machen, um ein Einschreiten des Europäischen Gerichtshofs zu verhindern, so Rechtsexperte Franz Mayer. Das polnische Verfassungsgericht soll instrumentalisiert werden, um die europäische Rechtsordnung abzuwehren mit dem Ziel, das polnische Recht ganz grundsätzlich über das europäische Recht zu stellen, so die Meinung des Experten. Das Verfassungsgericht sei mittlerweile eine politische Marionette geworden. Auf die eigene Bevölkerung wirke es überzeugender, wenn das Verfassungsgericht vorgeschickt werde und sich mit pseudo-rationalen Argumenten legitimiere, welche angeblich aus der Verfassung stammen. Mit diesen Argumenten behaupte man dann, dem Europäischen Gerichtshof nicht Folge leisten zu müssen. Ziel der polnischen Regierung sei nicht in erster Linie der Polexit, sondern die Europäische Union von innen heraus zu verändern, indem sie die europäische Rechtsordnung infrage stelle: „Das ist viel gefährlicher als ein Polexit”, so  Politikwissenschaftler  Piotr Buras.

Auch andere Regierungen wie Ungarn und noch einige weitere Staaten in der EU argumentieren ähnlich und haben vergleichbare Ansichten. Sie weisen darauf hin, dass auch andere EU-Mitgliedstaaten bereits gegen Urteile des EuGH vorgegangen seien. Unter anderem habe auch Deutschland mit seinem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Mai 2020 eine partielle Verfassungswidrigkeit des EZB-Programms ausgemacht. Dieses Urteil sei jedoch qualitativ nicht vergleichbar mit dem Urteil des polnischen Verfassungsgerichts vom Oktober 2021, so der Rechtswissenschaftler Alexander Thiele: „Unabhängig davon, wie man zu dem Urteil des BVerfG steht, hat das polnische Urteil eine völlig andere Qualität. Es rüttelt an den Grundfesten der europäischen Integration, beeinträchtigt in massiver Weise die Funktionsfähigkeit des supranationalen europäischen Gerichtsverbunds“.

In einem Pro & Contra zum Rechtsstreit argumentiert Christoph von Marshall, Vorrang habe EU-Recht nur in jenen Bereichen, in denen die Nationalstaaten die Zuständigkeit an die EU abgetreten hätten, die Organisation der Gerichte gehörten nicht dazu. Auch das deutsche Bundesverfassungsgericht akzeptiere keinen generellen Rechtsvorrang, nur einen Anwendungsvorrang europäischen Rechts in Bereichen geteilter Zuständigkeit. Wo die EU hingegen weder allein noch teilweise zuständig sei, bestehe auch Karlsruhe auf dem Vorrang nationalen Rechts (siehe auch BpB: Grundgesetz und EU-Recht). Dem Warschauer Urteil liege ein großer Irrtum zugrunde, argumentiert  hingegen  Albrecht Meier. Die Regierung in Warschau denke offenbar, dass jedes EU-Land nach eigenem Belieben Entscheidungen der Luxemburger Richter für null und nichtig erklären könne. Wenn sich diese Einschätzung in der EU durchsetze, käme das der Auflösung der Gemeinschaft gleich.

Die Historikerin und Slavistin Alix Landgrebe verweist auf das nationale Selbstverständnis von Staaten wie Polen, das in hohem Maße selbstreferenziell sei. Die Nachfolgestaaten der Sowjetunion wie auch Staaten des ehemaligen Warschauer Paktes  würden bis heute danach sterben, ihr nationales Selbstverständnis zu konsolidieren und teilweise aggressiv ihre Interessen zum Ausdruck bringen.  So seien etwa die Vysehrad-Staaten zwar Mitglieder der EU,  jedoch – insbesondere im Falle Polens und Ungarns – nicht wirklich bereit, sich in diese Struktur zu integrieren, weil ihr Streben nach nationaler Konsolidierung  zu groß sei, so Landgrebe.

Reaktonen und Maßnahmen der EU

Die Europäische Kommission versucht seit Jahren, Polen Einhalt zu gebieten und die Verletzungen der rechtsstaatlichen Prinzipien zu ahnden. Letztendlich verfügte sie aber bislang über  keine ultimativen Durchsetzungsmittel. Sie drohte Polen mit der Aussetzung von Zahlungen, wie etwa aus dem Coronahilfsfond, und  Geldstrafen. Sollte die Regierung in Warschau die Disziplinarkammer nicht wie vom  Europäischen Gerichtshof gefordert aussetzen, werde Brüssel die Zahlung eines Bußgeldes gerichtlich beantragen, kündigte EU-Kommissionsvizepräsidentin Vera Jourova im Juli 2021 an.

Das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts vom Oktober 2021 hat das Fass zum Überlaufen gebracht und ein politisches Erdbeben in Brüssel ausgelöst. Dementsprechend heftig die Reaktionen. Polen rüttle an den Grundfesten der EU und begebe sich auf einen Weg in den Polexit , so die Befürchtung. David Sassoli, der damalige Präsident des Europäischen Parlaments erklärte, das Urteil könne nicht ohne Folgen bleiben, der Vorrang von EU-Recht müsse unbestritten sein. Wer gegen diesen Grundsatz verstoße, bedrohe eines der Gründungsprinzipien der EU: „Wir rufen die EU-Kommission auf, die notwendigen Schritte zu unternehmen.“ Bereits im Sommer hatte das Europäische Parlament den Druck auf die Europäische Kommission erhöht und gedroht, die Kommission zu verklagen, wenn sie nicht bald handle. Ende Oktober 2021 erging nun tatsächlich die Klage an die EU Kommision wegen Untätigkeit, den Worten müssten Taten folgen, so EU-Parlamentspräsident Sassoli.

Auch der Europäische Gerichtshof wurde in Sachen der Justizrefom Polens erneut aktiv. Am 27. Oktober 2021 hat der EuGH Polen zu Geldstrafen verurteilt. Das Land soll täglich eine Million Euro Strafe an die EU-Kommission zahlen. Warschau habe die EuGH-Entscheidung bezüglich der umstrittenen Justizreform noch nicht umgesetzt, begründete das Gericht seinen Beschluss. Das sei aber notwendig, um ernsthaften Schaden von der EU abzuwenden. Als weiteres Druckmittel hält die EU auch die dem Land eigentlich zugewiesenen Mittel über 36 Milliarden Euro aus dem Coronahilfsfond noch immer zurück.

Die Reaktionen in Warschau fielen unterschiedlich aus, während Vize-Justizminister Sebastian Kaleta das Urteil der Luxemburger Richter unmittelbar nach der Verkündung als „Erpressung“ kritisierte und die Strafzahlungen zurückwies, hatte Premierminister Mateusz Morawiecki das EuGH-Urteil zunächst noch nicht kommentiert. In den Tagen zuvor hatte er Brüssel jedoch davor gewarnt, Polen die „Pistole an den Kopf zu setzen“ und den   „dritten Weltkrieg” zu starten. Für die polnische Opposition dagegen war das Urteil des EuGH die klare Bestätigung, dass die PiS mit ihrer Justizreform gescheitert ist und die Rechtsstaatlichkeit in Polen so schnell wie möglich wieder hergestellt werden müsse.

Da Polen den Beschluss des Europäischen Gerichtshofs zur Justizreform noch immer nicht umgesetzt hat, verlangt die EU-Kommission im Januar 2022 nun die Zahlung von 69 Millionen Euro Strafe (die Strafe war auf 1 Million täglich angesetzt worden bei Nicht-Umsetzung). Polen hat 60 Tage Zeit, auf die Zahlungsaufforderung zu reagieren, ansonsten werde die Strafe wie im Turow-Fall über Zahlungen an Polen aus dem EU-Haushalt ausgeglichen bzw. einbehalten. Da Polen den Braunkohleabbau im Tagebau Turów an der Grenze zu Sachsen trotz Anordnung des EuGH im Mai 2021 nicht ausgesetzt hatte, erging in diesem Fall eine tägliche Strafzahlung von 500.000 an Polen. Auch auf diese Zahlungsaufforderung war Polen nicht eingegangen, weshalb im Februar 2022 die EU nun 60 Millionen Euro einbehalten hat. Ein Präzedenzfall: Erstmals hat Brüssel dem EU-Mitglied Polen Teile seiner Geldmittel abgezogen, um damit fällige Geldbußen zu kompensieren.

Mehrheit der Polen pro EU und Rechtsstaatlichkeit

Auch im Land selbst regt sich Widerstand gegen die Justizreform.  Der frühere EU-Ratspräsident Donald Tusk rief seine Landsleute zu Protesten auf. Die Bevölkerung versammelte sich im Oktober 2021 zu Zehntausenden in mehreren Städten Polens, um sich gegen den aktuellen Kurs der Regierung Kacinski und für einen Verbleib ihres Landes in der EU stark zu machen. „Wir müssen Polen retten, niemand sonst wird das für uns tun“, so Donald Tusk. Die pro-europäische polnische EU-Abgeordnete Rosa Thun betont: Eine große Mehrheit von 80 Prozent der polnischen Bevölkerung würde in der EU bleiben wollen und sei demokratisch orientiert. Was die polnische Regierung mache, falle auf alle Polen zurück, auch auf jene, die wegen der Entscheidung extrem besorgt und nicht damit einverstanden seien. Überall im Land würden sich die Menschen mobilisieren, die sozialen Medien seien voll von Bekundungen: Wir sind Europäer! Europa bin ich! Europa sind wir! Europa ist hier!


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