Der Holodomor als Völkermord - Tatsachen und Kontroversen

 

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90 Jahre Holodomor

Inmitten des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine fand im November 2022 das Gedenken an die von der Sowjetführung vor 90 Jahren verursachten Hungersnot Holodomor statt.  Die Ukraine verwies bei der Gedenkfeier auch auf Parallelen zur russischen Aggression von heute.

Im November 2022 hat nun auch der Deutsche Bundestag den „Mord durch Hunger” als Genozid anerkannt. Weitere Länder, die – neben der Ukraine – den Holodomor offiziell als Völkermord anerkannt haben:  Australien, Ecuador, Estland, Georgien, Kanada, Kolumbien, Lettland, Litauen, Mexiko, Paraguay, Peru, Polen, Portugal, Tschechien, Ungarn und der Vatikan.

Gerhard Simon

Referat bei der Tagung „Holodomor 1932-33. Politik der Vernichtung“.
Mannheim 24. November 2007


In den Jahren 1932/33 ereignete sich in der Sowjetunion eine der größten humanitären Katastrophen des 20.Jahrhunderts. Sechs bis sieben Millionen Menschen wurden Opfer einer Hungersnot, über die damals so gut wie nichts an die Öffentlichkeit drang. In der Sowjetunion wurde die Große Hungersnot mit einem Tabu belegt. Erst 50 Jahre später begann eine größere Öffentlichkeit – zunächst in Nordamerika und dann auch in der auseinander brechenden Sowjetunion – Details zu erfahren und Anteil zu nehmen. Inzwischen ist der Holodomor zu einem zentralen Aspekt der Erinnerungskultur in der Ukraine, nicht jedoch in Russland oder Kasachstan geworden.

Die Erinnerung an die Millionen Verhungerten steht in der Ukraine im Zeichen der Distanzierung von der kommunistischen Vergangenheit, und sie dient zugleich der Konsolidierung der Nation im neuen demokratischen Staatswesen. Auch in Russland ist die Hungersnot kein Tabu mehr, aber zu einem breiten Gedächtnis an die Opfer ist es bis heute nicht gekommen.

Die Hungersnot forderte besonders viele Opfer in der Ukraine: nach den Ergebnissen der neueren Forschung 3,5 Millionen Menschen, bei einer Einwohnerzahl von 29 Millionen (1926) waren das mehr als 10% der Bevölkerung. Die Opfer verteilen sich ganz ungleichmäßig über das Land. Am stärksten betroffen waren die damaligen Gebiete Kiew und Charkiv sowie die damalige Autonome Republik Moldova im Bestand der UkrSSR, weniger Hungertote waren im Donbas zu beklagen. Dabei weichen die heutigen administrativen Grenzen erheblich von den damaligen ab. Allerdings weist die Statistik in allen Gebieten der Ukraine für das Jahr 1933 deutlich höhere Sterbeziffern aus als in den Jahren davor und danach. Opfer des Hungers gab es also im ganzen Land; die Menschen verhungerten fast ausschließlich in den Dörfern. In den Städten herrschte zwar auch äußerster Mangel an Nahrungsmitteln, aber der Schwerpunkt des Hungers waren gerade die Getreide produzierenden Regionen. Ganze Dörfer starben aus. Ungefähr 80% der Verhungerten in der Ukraine waren ethnische Ukrainer, denn die ländliche Bevölkerung bestand ganz überwiegend aus ethnischen Ukrainern. Die restlichen 20% der Opfer in der Ukraine verteilten sich auf polnische, moldauische, russische und deutsche Landbewohner. In der westlichen Ukraine, die damals zu Polen, bzw. Rumänien und der Tschechoslowakei gehörte, gab es keine Hungersnot.

Auch außerhalb der Ukraine wütete der Hunger in der Sowjetunion. Am stärksten betroffen waren der Nordkaukasus und hier besonders der Kuban’, wo die Bevölkerungsmehrheit aus Ukrainern und ukrainischen Kosaken bestand, sowie die Regionen Mittlere und Untere Wolga, einschließlich der Autonomen Republik der Wolgadeutschen. Die höchste Zahl der Opfer – gemessen an der Bevölkerungszahl – war in den Steppenregionen Kasachstans zu beklagen. Hier starben die kasachischen Nomaden infolge der zwangsweisen Sesshaftmachung.

Insgesamt starben – wie gesagt - nach Berechnungen von Fachleuten sechs bis sieben Millionen Menschen, davon 3,5 Millionen in der Ukraine, 2 Millionen in Kasachstan, weitere Hunderttausende im Nordkaukasus, an der Wolga und in Westsibirien. Die genaue Zahl der Opfer wird sich niemals ermitteln lassen, weil standesamtliche Einträge nur unvollständig geführt wurden und die Behörden von Anfang an angewiesen wurden, die Hungeropfer nicht zu dokumentieren. Sogar die Ergebnisse der Volkszählung von 1937 wurden zum Staatsgeheimnis erklärt, und die leitenden Mitarbeiter der Volkszählung verschwanden als Saboteure und Volksfeinde im Gulag. Erst nach dem Ende des Sowjetsystems wurden die Ergebnisse der Volkszählung von 1937 zugänglich; der Vergleich der Ergebnisse der Volkszählung von 1926 und 1937 stellt eine wichtige Quelle für die Berechnung der Opferzahlen dar.

In vielen ländlichen Regionen der Ukraine kam es schon in der ersten Jahreshälfte 1932 zu einer ersten Hungerkatastrophe. Die Zahl der Hungeropfer in diesem ersten Hungerjahr, das auf eine schlechte Getreideernte 1931 folgte, wird auf 144.000 geschätzt. Schlimmeres stand bevor. Nach einer zweiten unterdurchschnittlichen Getreideernte in der Ukraine 1932 verhungerten die Bauern seit dem Spätherbst 1932; die Katastrophe des Holodomor erreichte im Juni 1933 ihren Höhepunkt, im September 1933 mit der neuen Ernte war das Hungersterben vorbei.

Wie konnte es ausgerechnet in der Ukraine - der Kornkammer Europas – zu einer Hungersnot in den Dörfern kommen? Die erst vor kurzem in die Kolchosen gezwungenen Bauern und die noch verbliebenen Einzelbauern wurden mit einem unerfüllbar hohen Ablieferungssoll belastet. Wenn die Kolchosen und Einzelbauern das ihnen auferlegte Ablieferungssoll nicht aufbrachten, erschienen bewaffnete Requirierungskommandos und nahmen den Bauern die Getreideernte weg. So starben viele Landbewohner im Spätwinter und im Frühjahr, wenn alle anderen Nahrungsmittel aufgebraucht und auch das zuvor geschlachtete Vieh verzehrt war. Die zwangsweise Kollektivierung hatte überall zum Rückgang der Arbeitsproduktivität auf dem Land geführt. Die Bauern arbeiteten lustlos und schlecht auf den Kolchosfeldern. Auch das war eine Grund für schlechte Ernteergebnisse.

Nach der bolschewistischen revolutionären Logik waren die Bauern grundsätzlich Menschen zweiter Klasse. Im Zuge der Industrialisierung war ihnen die Rolle zugewiesen worden, die Städte und die entstehenden Industriereviere zu ernähren. Wenn sie das nicht freiwillig taten - so die bolschewistische Parteilinie - mussten sie dazu durch Requirierung der Ernte gezwungen werden. Die Stalin-Führung nahm billigend in Kauf, dass ein Teil der Bauern verhungerte. Ja, mehr noch, die Parteiführer bestätigten sich in ihrer Korrespondenz, wie nützlich der Hunger war, um die Bauern zur ehrlichen Arbeit in den Kolchosen zu zwingen. Die Hungersnot wurde von der bolschewistischen Führung als ein probates Mittel der Erziehung und Disziplinierung der Landbevölkerung betrachtet.

Der ukrainische Parteichef Stanislav Kosior schrieb am 15. März 1933 an Stalin, dass der Hunger „eine gewisse Wende bei der Masse der Kolchosbauern“ bewirkt habe. „Allerdings verstehen das bei weitem noch nicht alle Kolchosbauern. Sehr viele Kolchosbauern sind aus dem Hunger noch nicht schlau geworden, dies zeigt sich bei der mangelhaften Vorbereitung der Aussaat gerade in den Rayons, die besonders schlecht dran sind.“ (OE 12, 2004, S. 66) Die offizielle Propagandaversion lautete, die Bauern arbeiteten schlecht auf den Feldern der Kolchosen, sie würden das geerntete Getreide stehlen und verstecken, um es dann zu höheren Preisen illegal zu verkaufen. Deshalb wurden Requirierungskommandos in die Dörfer geschickt, um das Getreide zu konfiszieren. Dabei gingen die Requirierungskommandos in jedem Jahr mit größerer Brutalität vor. In der Propaganda wurde die Legende von den „unterirdischen Verstecken“ verbreitet, wo die Bauern angeblich die Ernte horteten. Mit diesen Lügen ausgestattet erschienen Arbeiteraktivisten unter Führung der Mitarbeiter der politischen Polizei OGPU in den Dörfern und durchsuchten Bauernhütten und Höfe. Wenn sie etwas fanden, wurden die Besitzer vor Schnellgerichte gestellt und wegen Diebstahl von Kolchoseigentum zu zehn Jahren Haft oder in schweren Fällen zum Tode durch Erschießen verurteilt (Verordnung vom 7. August 1932).

Tatsächlich stellte sich heraus, dass es keine illegal angelegten großen Getreidevorräte gab, sondern allenfalls hatten die Bauern Nahrungsmittel versteckt, um zu überleben. Als auch die konfisziert worden war, starben sie den Hungertod. Das erklärte die ukrainische Zeitschrift „Kolchosaktivist“ so: Die „jämmerlichen Heuler“ seien so weit heruntergekommen, „dass sie zusammen mit ihren Angehörigen absichtlich verhungern, obwohl sie Korn haben – nur, um Unzufriedenheit bei anderen Kolchosbauern zu provozieren“ (Kopelew, S. 360). Die Behauptung, dass Bauern absichtlich verhungern, scheint eine kaum noch zu überbietende Perversion der Wahrnehmung zu sein. Es zeigt die ganze revolutionär-ideologische Verbohrtheit und Entmenschlichung, dass Lev Kopelev und seine Genossen, die zur Zwangsrequirierung in die ukrainischen Dörfer geschickt worden waren, diese Propaganda glaubten, wie er selbst voller Reue in seinen Memoiren bekennt.

War die Hungersnot abwendbar? Sie war eine Konsequenz der Revolutionierung aller Verhältnisse auf dem Dorf und eine Front im „Krieg“ gegen die Bauern, wie Stalin selbst das nannte. Durch die Zwangskollektivierung verloren die Bauern besonders in der Ukraine ihre bisherigen Lebensgrundlagen. In der Ukraine hatte es zuvor kein bäuerliches Gemeineigentum (Mir oder Obš?ina) gegeben wie in Russland. Aufgrund der Zwangskollektivierung gingen die Ernteerträge zurück, was die bolschewistische Führung durch Hochrechnung der Statistik verschleierte. Schlechte Wetterbedingungen 1932 kamen hinzu, so dass nicht ausreichend Getreide zur Verfügung stand. Angesichts dieser Lage war die bolschewistische Führung entschlossen, das Getreide auf dem Dorf zu konfiszieren, um die Städter mit Brot zu versorgen, und die Bauern hungern zu lassen. Dies entsprach der Logik des Klassenkampfes und war zugleich ein Instrument, um die Bauern wegen ihres Widerstands gegen die Kollektivierung nachträglich zu bestrafen und für die Zukunft zu disziplinieren.

So führte die Stalin-Führung durch ihren rücksichtslosen Krieg gegen die Bauern die Hungersnot fahrlässig herbei. Als sich dann seit Herbst 1932 das ganze Ausmaß der Katastrophe abzeichnete, leitete die Führung nicht nur keine Hilfsmaßnahmen ein, sondern verschärfte durch gezielte Aktionen die Katastrophe und ist deshalb direkt für den Tod von Millionen verantwortlich, der trotz der knappen Getreideernte nicht zwangsläufig war.

Die Hungersituation wurde geleugnet und damit jede Hilfsmaßnahme im In- und Ausland unterbunden. Als dennoch Nachrichten über den Hunger nach Westeuropa und Nordamerika durchsickerten, wurden Sowjetdiplomatie und Propaganda angewiesen, dies als antisowjetische Hetze zurückzuweisen und sich jede Unterstützung für das hungernde sowjetische Dorf zu verbitten. Zugleich wurde der Export von Getreide aus der Sowjetunion, wenn auch in reduziertem Umfang fortgesetzt. 1931 hatte die Sowjetunion 5,2 Millionen Tonnen Getreide exportiert und im Hungerjahr 1933 waren es noch immer 1,7 Millionen Tonnen. Dafür kaufte die Sowjetmacht Maschinen und Industrieausrüstungen im Westen. Außerdem wurden auch in den Hungerjahren 1932 und 1933 staatliche Getreidevorräte in den Silos – obwohl in reduziertem Umfang - angelegt.

Nach Berechnungen von Michael Ellman von der Amsterdam School of Economics, einem der führenden Experten zur Großen Hungersnot, hätte allein das exportierte Getreide ausgereicht, um 1,5 Millionen Menschen ein Jahr lang zu ernähren. Hätte die Stalin-Führung nationale und internationale Hilfsmaßnahmen zugelassen und den Getreideexport eingestellt, wäre es möglich gewesen, die gesamte Bevölkerung trotz der schlechten Ernteergebnisse zu ernähren, „wenn – so fügt Ellman hinzu - die Ernährung der gesamten Bevölkerung Stalins oberste Priorität gewesen wäre“. (Stalin, S. 679) Eben das war sie nicht.

Bisher war von der Hungersnot in den Getreide produzierenden Regionen der der Sowjetunion allgemein die Rede. Für die Ukraine und den mehrheitlich von Ukrainern bewohnten Kuban’ kamen nun weitere Verschärfungen hinzu, die den Hunger erst zum Holodomor, d. h. zum Terror durch Hunger, und zum Genozid machten.

Durch Beschluss des ukrainischen ZK vom 18. November 1932, den der von Stalin nach Char’kiv entsandte Molotov diktierte, wurden für die Bauern, die mit der Getreideablieferung im Rückstand waren, so genannte Naturalienstrafen eingeführt. „Es wird ein zusätzliches Fleischablieferungssoll in Höhe des 15fachen Satzes der Monatsnorm dieser Kolchose sowohl vom gemeinschaftlichen als auch vom individuellen Viehbestand der Kolchosbauern festgesetzt“. In der Praxis führten die Naturalienstrafen dazu, dass die Requirierungskommandos sämtliche Nahrungsmittel in den Dörfern konfiszierten, einschließlich Rüben, Zwiebeln, getrockneten Pilze und Trockenobst. Sie lieferten damit die Bauern dem sicheren Hungertod aus. Anwendung fanden diese Naturalienstrafen gegen etwa 90% der Kolchosen in der Ukraine, nur etwa 10% hatten ihr Getreideablieferungssoll erfüllt.

Außerdem wurden mit diesem Beschluss des ZK der KP(b)U so genannte Schwarze Listen eingeführt. Für die Dörfer auf den Schwarzen Listen bedeutete das „die sofortige Einstellung der Lieferung von Waren, die vollständige Einstellung des kooperativen und staatlichen Handels und das Fortschaffen aller vorhandenen Waren aus den Koop-Läden“. Damit wurde über viele Dörfer eine vollständige Blockade verhängt wie in einem Krieg, um die Bevölkerung auszuhungern.

Die Menschen nutzten seit alters die Möglichkeit, in Hungerjahren ihre Heimat zu verlassen und in zum Teil entfernten Gegenden auf Hamsterfahrten zu gehen. Auch im Winter 1932/33 suchten Hunderttausende insbesondere in Weißrussland und den angrenzenden Gebieten der RSFSR nach Nahrungsmitteln. Durch eine geheime Direktive vom 22. Januar 1933 – unterzeichnet von Stalin und Molotov – wurden die Ukraine und der Nordkaukasus von einander und von der übrigen Sowjetunion abgeriegelt. Hunderttausende wurden zwangsweise in ihre Dörfer zurückgeschickt. Der Verkauf von Eisenbahnfahrkarten in der Ukraine wurde zeitweise eingestellt. Alle diese genannten Maßnahmen galten nur für die Ukraine und den Nordkaukasus, nicht aber für die Hungergebiete an der Wolga und in Sibirien.

Wie lässt sich erklären, dass die Stalin-Führung mit gezielten Aktionen die Hungersnot in der Ukraine verschärfte und damit Millionen Menschen eben hier dem Hungertod auslieferte? Spätestens seit dem Sommer 1932 war Stalin zu der Überzeugung gekommen, dass der ukrainische Nationalismus Schuld an der unzureichenden Getreideaufbringung war, dass die Ukrainer also gezielt Widerstand gegen die Zentralmacht leisteten und dafür ein für allemal bestraft werden müssten. Am 11. August 1932 schrieb Stalin an Kaganovi?, dass sich zahlreiche Rayonparteikomitees in der Ukraine gegen den Plan der Getreideablieferung ausgesprochen hätten und der Grund dafür sei, dass es in der KP der Ukraine zahlreiche „verrottete Elemente gibt, bewusste und unbewusste Anhänger von Petljura“, dem nationalen Führer aus der Bürgerkriegszeit, die nur darauf warteten, gegen Moskau loszuschlagen. „Wenn wir uns jetzt nicht daran machen, die Lage in der Ukraine in Ordnung zu bringen, dann können wir die Ukraine verlieren“. „In Ordnung gebracht“ wurde die Lage in der Ukraine durch den Hungerterror gegen das ukrainische Dorf und die gleichzeitigen umfassenden Säuberungen gegen die ukrainischen Nationalkommunisten und die nationale ukrainische Intelligenz.

Die Säuberungswelle in der Ukraine im Jahr 1933 war die umfassendste und blutigste, die bislang über die Sowjetunion hinweggegangen war. Sie traf die ukrainischen Schriftsteller und Künstler, Lehrer und Wissenschaftler sowie die untere und mittlere Führungsebene des Partei- und Sowjetapparats – die Liquidierung der obersten ukrainischen Führung verschob Stalin auf die Jahre 1937 bis 1939. Alle standen im Verdacht, für mehr Autonomie der Ukraine einzutreten und vielleicht sogar eine Lostrennung von der Sowjetunion anzustreben. Stalin hat in paranoider Weise die „Gefahr“ übertrieben, ganz aus der Luft gegriffen war sie nicht. In seinem politischen Weltbild gab es nur eine Antwort auf diese Bedrohung: die Vernichtung des Feindes.

War die Vernichtung von Millionen ukrainischer Bauern Völkermord im Sinne der Völkermordkonvention der Vereinten Nationen vom 9. Dezember 1948? In der Ukraine hat sich in den vergangenen Jahren in der Wissenschaft, nicht jedoch in der Politik ein weitgehender Konsens darüber herausgebildet, es habe sich um Völkermord gehandelt. Die „Konvention zur Verhinderung und Bestrafung des Verbrechens des Völkermords“ definiert Völkermord als „Akte“, die „mit der Absicht begangen wurden, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche, ganz oder teilweise, zu zerstören“. Auf den Holodomor angewendet, muss also nachweisbar sein, dass der Hungerterror erstens gezielt gegen das ukrainische Ethnos gerichtet war und dass die Stalin-Führung dabei zweitens die Absicht hatte, diese Gruppe jedenfalls teilweise zu vernichten. Die Gegner der Völkermordthese bringen vor, beides sei nicht erwiesen, weil erstens nicht nur Ukrainer, sondern auch Hunderttausende von Angehörigen anderer Ethnien innerhalb und außerhalb der Ukraine zu Tode kamen. Zweitens sei die Absicht zur Tötung nicht nachgewiesen, denn in den Archiven hat sich keine Direktive von Stalin gefunden, Millionen von Bauern durch Hunger zu vernichten.

Dem ist entgegenzuhalten, dass die Konvention nicht die Zerstörung einer ethnischen oder nationalen Gruppe insgesamt in die Völkermorddefinition aufgenommen hat. Dies war zwar bei der Vernichtung der europäischen Juden durch die deutschen Nationalsozialisten der Fall, ist aber nicht Voraussetzung für die Anwendbarkeit der Konvention von 1948. Es reicht also aus, dass der Holodomor sich gegen einen Teil der ukrainischen Bauern richtete und Millionen zu Opfern wurden. Die Tatsache, dass auch nichtukrainische Bauern unter den Opfern waren spricht nicht gegen die Völkermordthese, denn diese setzt keine Ausschließlichkeit voraus. Im Holocaust sind außer Juden auch zahlreiche Angehörige anderer Ethnien zu Opfern geworden.

Was nun die Intention, also die Absicht zu töten, betrifft, haben die Archive zwar keinen Tötungsukaz der Stalin-Führung zum Vorschein gebracht, aber die oben beschriebenen Maßnahmen: Konfiszierung aller Lebensmittel und Einschließung und Isolierung der Hungernden kommen einer Tötungsabsicht gleich. Etwas Weiteres kommt hinzu: Ende 1932/Anfang 1933 wurden 60.000 bis 100.000 Kosaken aus dem Kuban’-Gebiet in den Hohen Norden und nach Sibvirien deportiert, alle Bewohner ganzer Kosaken Stanicas (Siedlungen) wurden geschlossen als Konterrevolutionäre im Zusammenhang mit den Getreiderequirierungen deportiert. Die Anordnung dazu enthält ein geheimer Beschluss des ZK und des Rates der Volkskommissare der UdSSR vom 14. Dezember 1932. Hier wird in einem Einzelfall deutlich, dass der Terror gezielt gegen eine ethnische Gruppe, nämlich die ukrainischen Kuban’ Kosaken, gerichtet war. Auch in der Ukraine selbst wurden im Zuge der Getreidebeschlagnahmungen Bauern in großer Zahl deportiert. Auch dabei handelte es sich in aller Regel um Ukrainer.

Während in der ukrainischen Forschung die Genozidthese inzwischen weitgehend Konsens ist, besteht in der westlichen Forschung ein breites Spektrum von der Akzeptanz der Völkermordthese bis hin zu einer vehementen Ablehnung. James Mace und Andrea Graziosi gehören zu den Befürwortern der Einordnung des Großen Hungers als Völkermord, ebenso Roman Serbyn und manche andere. Auch Terry Martin stimmt dem jedenfalls teilweise zu. Mark Tauger lehnt dagegen eine Tötungsabsicht ab und glaubt im Wesentlichen an eine Naturkatastrophe. Dies ist allerdings in der westlichen Forschung heute eine seltene Extremposition.

Zahlreiche Forscher machen Stalin persönlich für den Tod von Millionen verantwortlich (S.Wheatcroft) oder unterstellen, er habe bewusst die Bauern verhungern lassen, weil das weniger aufwendig und kostspielig gewesen sei als weitere Millionen von Menschen zu deportieren wie zur Zeit der Kollektivierung (Michael Ellman). Insoweit lässt sich sagen, dass der Holodomor weithin in der westlichen Forschung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wenn auch nicht durchgehend als Völkermord qualifiziert wird.

Die russische Politik wehrt sich mit Nachdruck gegen die Einordnung des Holodomor als Völkermord. Allerdings gibt es in Russland Forscher, die den Großen Hunger als Völkermord werten, dessen Opfer nicht nur die Ukrainer sondern auch die Russen waren, von denen Hunderttausende an der Wolga umkamen (V. Danilov, Viktor Kondrašin). In Russland wird bislang weder in der Publizistik noch in der Forschung anerkannt, dass der Holodomor in der Ukraine andere, noch weit brutalere Züge hatte als an der Wolga. Die enge Verknüpfung von Nationalitätenpolitik und Getreiderequirierungen, die Stalin persönlich hergestellt hat, wird nicht zur Kenntnis genommen. Für Stalin war der Holodomor nicht nur ein Instrument, um die Bauern zu disziplinieren, sondern auch um in der Ukraine alle Träume von Autonomie oder gar Selbständigkeit ein für alle Mal zu zerstören. Wie wir heute wissen, ist dies nicht gelungen.

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